
Die nordische Mythologie ist nicht nur von mächtigen Göttern und furchterregenden Riesen bevölkert, sondern auch von feineren, stilleren Gestalten, die in ihrer Funktion eine große symbolische Bedeutung tragen. Eine solche Gestalt ist Fulla (altnordisch Fulla), die als jungfräuliche Dienerin der Göttin Frigg beschrieben wird. Obwohl sie in den Quellen nur selten erwähnt wird, steht sie doch für Werte wie Reinheit, Vertrauen, Verlässlichkeit und Loyalität – Qualitäten, die im Kosmos der Götter ebenso unentbehrlich waren wie die Waffen der Krieger.

Fulla begegnet uns vor allem in der Prosa-Edda Snorris, wo sie als eine der Asinnen genannt wird. Ihr Bild ist dort erstaunlich plastisch: Sie trägt ihr Haar offen, doch mit einem goldenen Stirnband gebunden, was sie zu einer auffälligen und zugleich ehrwürdigen Figur im Kreis der Göttinnen macht. Ihre Schönheit und Jugend werden ebenso hervorgehoben wie ihre enge Bindung an Frigg. Snorri schildert, dass Fulla alle Geheimnisse Friggs kennt, ja, dass die höchste Göttin ihr unumschränktes Vertrauen schenkt. Damit wird sie nicht als bloße Dienerin, sondern als Vertraute im innersten Kreis göttlicher Macht charakterisiert.
Ihre Aufgaben sind in den Quellen unscheinbar, doch symbolisch hoch aufgeladen: Sie bewahrt Friggs Schuhkasten, ein Hinweis auf ihre Funktion als Hüterin der Dinge, die die Göttin selbst nicht offen zur Schau stellt. Dieses Detail macht Fulla zur Bewahrerin des Privaten, Intimen und Geheimen. In der Lokasenna, wo Loki die Götter verspottet, wird sie ebenfalls erwähnt, was zeigt, dass sie zum festen Pantheon gehörte. Auch dort deutet sich an, dass Fulla nicht nur eine Dienerin, sondern eine Frau von Rang ist, die selbst Objekt von Spott und Intrigen wird, weil sie den innersten Kreis um Frigg repräsentiert.
Manche Forscher sehen in ihr ein Relikt einer eigenständigen Göttin des Wohlstands oder der Fülle, deren Rolle später in den Mythen reduziert wurde. Ihr Name „Fulla“ – von altnordisch fullr, „voll“ – spricht dafür, dass sie ursprünglich mehr war als nur Begleiterin. Sie könnte Aspekte der Fruchtbarkeit, des Reichtums oder der unberührten Jungfräulichkeit verkörpert haben, die dann in der Figur der Frigg aufgingen.
Direkte kultische Belege zu Fulla sind nicht erhalten, was sie von bekannteren Göttinnen wie Freyja oder Frigg unterscheidet. Doch gerade ihre Funktion als jungfräuliche Vertraute Friggs legt nahe, dass sie Teil eines religiösen Konzeptes war, das stärker auf weibliche Lebenswelten und Werte wie Loyalität, Geheimhaltung und Reinheit ausgerichtet war. In den patriarchal geprägten Kulten der nordischen Welt hatten solche Begleiterinnen eine besondere Rolle: Sie ergänzten die Hauptgöttinnen und machten ihre Machtfülle in unterschiedlichen Aspekten greifbar.
Fulla könnte in Ritualen angerufen worden sein, die mit Weiblichkeit, Reinheit oder Treue in Verbindung standen. Ihr Bild als Hüterin von Geheimnissen legt nahe, dass sie auch bei Eiden oder Schwüren im privaten und familiären Bereich angerufen wurde. Wie bei anderen „Neben-Göttinnen“ im germanischen und nordischen Pantheon ist denkbar, dass ihr Verehrung vor allem lokal stattfand, vielleicht in Hausritualen oder als Schutzgöttin für Frauen, die Reinheit und Loyalität verkörpern wollten.
Die Bedeutung ihres Namens erlaubt zudem eine agrarische Deutung: Als „die Volle“ oder „die Überreiche“ könnte sie mit Kornspeichern, Vorrat und Wohlstand in Verbindung gebracht worden sein. Auch wenn die späteren Quellen dies nicht mehr betonen, könnte Fulla in vorchristlicher Zeit eine Symbolfigur für reiche Ernte, materielle Fülle und die Bewahrung von Ressourcen gewesen sein.
Die Symbolik Fullas erschließt sich aus ihrer Rolle als Dienerin und Vertraute Friggs, ihrer Jungfräulichkeit und ihrem Namen. Sie steht einerseits für Reinheit und Unschuld, die durch ihre Darstellung als unberührte, jungfräuliche Frau betont wird. Ihre Jungfräulichkeit ist jedoch nicht nur körperlich zu verstehen, sondern auch als ein Bild für Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit, für eine Kraft, die nicht in Besitz genommen, sondern bewahrt wird.
Darüber hinaus verkörpert sie Treue und Verlässlichkeit. Als einzige kennt sie alle Geheimnisse Friggs und trägt damit eine Verantwortung, die höchste Vertrauenswürdigkeit verlangt. In dieser Eigenschaft wird sie zur göttlichen Verkörperung von Loyalität – einer Tugend, die im Geflecht von Eiden und Schwüren der Wikingerzeit von entscheidender Bedeutung war.
Doch Fulla ist mehr als nur die stille Hüterin. Ihr Name weist auf Fülle, Reichtum und Überfluss hin. Hier öffnet sich ein zweiter Symbolhorizont: Fulla könnte nicht nur die unantastbare Vertraute sein, sondern auch eine Personifikation des Wohlstands, der „vollen Vorratskammern“ und des Überflusses, der Sicherheit gibt. So vereint sie zwei Seiten: die asketische Reinheit und die irdische Fülle.
Diese Vielschichtigkeit macht Fulla zu einer der faszinierenden Nebenfiguren im Götterkreis: eine Frauengestalt, die sowohl spirituelle Reinheit als auch die greifbare materielle Sicherheit symbolisiert – und damit auf subtile Weise zwei Lebensnotwendigkeiten zusammenbringt, die in der nordischen Welt gleich bedeutsam waren.
Die Prosa-Edda Snorris ist die wichtigste Quelle zu Fulla. Dort beschreibt Snorri sie als jungfräulich, mit goldenem Haarband, und als Vertraute Friggs. In der Grímnismál der Lieder-Edda wird sie in einem kurzen Vers genannt, während Loki sie in der Lokasenna verspottet.
Darüber hinaus gibt es keine archäologischen Belege für einen eigenständigen Fulla-Kult, doch ihr Name taucht in einigen altgermanischen Überlieferungen und möglicherweise in Personennamen auf. Einige Forscher vermuten, dass Fulla ein Relikt einer älteren Göttinfigur ist, die mit Fruchtbarkeit, Reichtum oder Fülle verbunden war und deren Funktionen später in Frigg oder Freyja übergingen.
Die Namensbedeutung „die Volle“ oder „die Überreiche“ legt nahe, dass sie ursprünglich auch mit Fülle, vielleicht mit Kornspeichern oder Wohlstand, verbunden war. In diesem Sinn könnte Fulla eine alte Agrargöttin gewesen sein, deren Rolle im Laufe der Mythenentwicklung reduziert wurde, sodass sie am Ende vor allem als Dienerin Friggs erschien.
In der heutigen Rezeption wird Fulla meist als Symbol für Reinheit, Loyalität und Treue gesehen. In der Neuheidentum- und Ásatrú-Szene gilt sie als Begleiterin Friggs, die in Ritualen, die weibliche Energien oder Reinheit betreffen, angerufen wird.
In der Popkultur ist Fulla bisher kaum präsent, was vor allem daran liegt, dass ihre Erwähnungen in den Quellen knapp sind. Dennoch hat sie in der modernen Spiritualität eine Nische gefunden, in der sie für Themen wie Selbstbewahrung, Vertrauen und Wohlstand steht.
Fulla ist eine der stillen, aber bedeutungsvollen Gestalten der nordischen Mythologie. Als jungfräuliche Dienerin Friggs und Hüterin ihrer Geheimnisse verkörpert sie Reinheit, Loyalität und Vertrauen. Ihr Name weist auf Fülle und Überfluss hin, was darauf hindeutet, dass sie möglicherweise ursprünglich eine eigenständige Göttin des Wohlstands war. Auch wenn sie im Schatten mächtigerer Göttinnen steht, zeigt Fullas Gestalt, dass die nordische Mythologie nicht nur von Donner und Krieg lebt, sondern auch von stillen Symbolen wie Vertrauen, Reinheit und der Treue, die Geheimnisse wahrt.
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