Der Blog zur nordischen Mythologie und den Wikingern

Götter der Wikinger: Sigyn

Unter all den Gestalten der nordischen Mythologie ist Sigyn (altnordisch: Sigynja) eine der stillsten – und zugleich eine der ergreifendsten. Sie ist die Gattin des listigen Gottes Loki, eine Göttin, deren Name sich mit „Siegbringende“ oder „Siegreiche Freundin“ übersetzen lässt. Während viele der Asen mit Kampf, Magie oder Herrschaft verbunden sind, verkörpert Sigyn etwas anderes, etwas zutiefst Menschliches: unerschütterliche Treue, Mitgefühl und Leidensfähigkeit. In einer Welt aus Krieg, Rache und Götterschicksal ist sie die Ausnahme – eine Gestalt, die weder Ruhm noch Macht sucht, sondern in der Stille des Leidens wahre Größe zeigt. Ihr Platz an Lokis Seite, besonders während seiner Bestrafung, macht sie zu einer Symbolfigur für Liebe inmitten von Schmerz, für die Kraft, die bleibt, wenn alles andere zerbricht.

Götter der Wikinger: Sigyn

Sigyn in der nordischen Mythologie

Sigyn wird in den Eddaliedern und der Prosa-Edda als Asin beschrieben, die mit Loki verheiratet ist und zwei Söhne mit ihm hat: Nari (auch Narfi) und Vali. In den frühen Texten wird sie kaum erwähnt – und doch gehört ihre Rolle zu den emotional eindringlichsten der gesamten Mythologie.

Nachdem Loki für seine Rolle im Tod des Lichtgottes Baldur bestraft wurde, banden ihn die Götter tief unter der Erde. Seine eigenen Söhne wurden zu Werkzeugen seiner Strafe: Der eine, Vali, wurde in einen Wolf verwandelt und tötete seinen Bruder Narfi; aus dessen Eingeweiden fertigten die Götter die Fesseln, mit denen Loki an den Felsen gebunden wurde.

Über ihm befestigten sie eine giftige Schlange, deren Tropfen unaufhörlich auf sein Gesicht fielen. Nur Sigyn blieb. Tag und Nacht steht sie an seiner Seite, hält eine Schale über Lokis Kopf und fängt das tödliche Gift auf. Doch wenn sie die Schale leeren muss, trifft ihn der brennende Tropfen – und Lokis Schmerz lässt die Erde erbeben.

Diese Szene, in der eine Frau allein zwischen göttlicher Strafe und Mitgefühl steht, ist eines der stärksten Bilder nordischer Dichtung. Sie macht Sigyn zur Verkörperung von Treue, Mitleid und Leidensmut – Qualitäten, die im nordischen Kosmos selten, ja fast überirdisch wirken.

Der Kult um Sigyn: Verehrung und Rituale

Obwohl Sigyn keine prominente Kultgöttin war, zeigen spätere Quellen und Runeninschriften, dass sie im Volksglauben als Schutzgöttin der Treue und des familiären Zusammenhalts verehrt wurde. Ihr Name erscheint in einigen altnordischen Dichtungen und auf Amuletten, die vermutlich als Schutzzeichen gegen Schmerz und Verlust dienten.

In der Skaldendichtung taucht sie als Symbol für standhafte Liebe auf – ein Archetyp der Frau, die nicht verlässt, sondern bleibt. Einige Forscher vermuten, dass Sigyn in familiären Riten angerufen wurde, etwa bei Eiden zwischen Ehepartnern oder in Beileidsritualen für Verstorbene.

In der Volksmagie Skandinaviens galt es als Schutzzauber, einen silbernen Becher – Sigyns Schale – zu segnen und in Zeiten familiärer Krisen aufzubewahren. Diese Praxis, die sich in abgeschwächter Form bis in die Spätzeit der nordischen Christenheit hielt, verweist auf die fortlebende Idee, dass Sigyn Kummer in Mitgefühl wandelt und das Gift des Lebens erträglich macht.

Symbolik von Sigyn

Sigyns Symbolik ist vielschichtig und reicht weit über ihre Rolle als Lokis Gattin hinaus. Sie steht für die heilende Kraft des Mitgefühls – das Prinzip, das selbst in der Welt der Götter, in der Stolz und Vergeltung herrschen, noch Menschlichkeit bewahrt.

Ihr Name – Sigyn, die „Siegbringende“ – verweist auf eine paradoxe Wahrheit: Ihr Sieg besteht nicht im Kampf, sondern im Aushalten. Sie siegt nicht mit Waffen, sondern mit Geduld. Diese Haltung spiegelt eine andere Art von Stärke wider, die in der nordischen Welt, in der Ehre und Rache oberste Tugenden waren, fast revolutionär erscheint.

In der symbolischen Ordnung kann Sigyn als Gegengewicht zu Loki verstanden werden. Wo er Chaos bringt, bewahrt sie Ordnung; wo er zerstört, hält sie fest; wo er Schmerz erleidet, teilt sie ihn. Zusammen verkörpern sie den Dualismus von Auflösung und Bindung, von Zerstörung und Heilung – zwei Kräfte, die das Universum in Bewegung halten.

In der modernen spirituellen Deutung steht Sigyn für Loyalität, Opferbereitschaft und emotionale Resilienz. Sie erinnert daran, dass Liebe nicht immer triumphiert, aber dennoch bestehen kann – selbst gegen Götter und Schicksal.

Historische Quellen und Belege zu Sigyn

Die Hauptquellen zu Sigyn stammen aus der Prosa-Edda von Snorri Sturluson (13. Jh.) und den Liedern der Älteren Edda, insbesondere der Lokasenna und der Völuspá. In der Lokasenna wird sie kurz erwähnt, als Loki selbst die Götter verspottet – hier tritt Sigyn als stilles Gegenbild auf, eine Figur ohne Spott, ohne Schuld.

Snorri beschreibt sie als Asin von edlem Geist und tiefer Trauer. Im Kapitel über Lokis Fesselung erzählt er, wie sie standhaft das Gift auffängt – eine der seltenen Szenen in der nordischen Literatur, in der weibliche Standhaftigkeit über göttliche Macht hinaus Bedeutung erhält.

Archäologische Belege für ihren Kult sind selten, doch in einigen Bildschnitzereien aus dem 11. Jahrhundert, etwa auf gotländischen Bildsteinen, glauben Forscher, die Darstellung einer Frau mit Schale neben einem gefesselten Mann zu erkennen – möglicherweise die älteste Darstellung von Sigyn und Loki.

Linguistisch lässt sich ihr Name in mehreren nordischen Frauennamen des Mittelalters nachweisen (Sigun, Sigina, Siguna), was auf eine anhaltende Verehrung oder symbolische Verwendung ihres Namens schließen lässt.

Spirituelle Bedeutung und moderne Rezeption

In der heutigen nordischen Spiritualität (Ásatrú und verwandte Richtungen) wird Sigyn zunehmend als eigenständige Göttin verehrt – als Schutzpatronin der Mitfühlenden, der Leidenden und der Treuen. Viele sehen in ihr die stille Kraft, die in Zeiten von Verlust und Chaos das Herz bewahrt.

Ihr Bild taucht in moderner Kunst, Poesie und sogar in Popkultur auf, wo sie als tragische, starke Frauenfigur neu interpretiert wird – als Archetyp jener Liebe, die über Schmerz hinaus Bestand hat.

Sigyn erinnert daran, dass Götter nicht nur Macht, sondern auch Verletzlichkeit besitzen. Sie ist der göttliche Ausdruck menschlicher Empathie – der Mut, bei jemandem zu bleiben, den die Welt verurteilt.

Zusammenfassung zur nordischen Göttin Sigyn

Sigyn ist keine Kriegerin, keine Seherin und keine Herrscherin – und doch gehört sie zu den größten Gestalten der nordischen Mythologie. Ihre Stärke liegt in der Stille, ihr Heldentum im Aushalten. Sie verkörpert eine Form der Liebe, die weder belohnt noch gefeiert wird, aber gerade deshalb unvergänglich ist. Während die Welt der Götter untergeht und Ragnarök sich nähert, bleibt Sigyn das Sinnbild dafür, dass Treue stärker sein kann als Zorn, und Liebe mächtiger als Schicksal.In einer Zeit, in der Ruhm und Sieg die höchsten Werte waren, lehrte Sigyn die Wikinger – und uns –, dass auch das Ausharren, das Mitfühlen und das Vergeben göttliche Tugenden sind. Sie ist die stille Göttin der Liebe im Angesicht des Untergangs – und die Verkörperung jener Wahrheit, die in der Dunkelheit flüstert: Ich bleibe.


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