Die Hávamál ("Die Worte des Hohen") sind eines der zentralen Gedichte der sogenannten Lieder-Edda (auch Poetische Edda). Als Sammlung von Weisheiten, Sprüchen, philosophischen Gedanken, magischen Lehren und ethischen Anweisungen stammen sie vermutlich aus einer Zeit zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert und wurden im 13. Jahrhundert schriftlich im Codex Regius niedergeschrieben. Der Sprecher des Gedichts ist Odin – der höchste Gott der nordischen Mythologie, der hier in der Ich-Form spricht und seine Weisheiten mit den Menschen teilt.
Der Text ist in altnordischer Stabreimdichtung verfasst und umfasst insgesamt 165 Strophen. Die Hávamál kombinieren Alltagserfahrungen mit mythologischer Tiefe, und vermitteln ein Bild davon, wie die idealen Tugenden in der Wikingerzeit ausgesehen haben könnten: Gastfreundschaft, Mäßigung, Klugheit, Vorsicht, Weisheit, Selbstbeherrschung – aber auch Magie und Runenkraft.
Die Hávamál lassen sich in fünf große Abschnitte einteilen:
Gnomische Sprüche (Strophen 1–80): Lebensklugheit, Verhalten, Gastfreundschaft, Ethik, soziale Ratschläge.
Liebesratschläge und Odins Erlebnisse (81–110): Geschichten aus Odins Erfahrungen, insbesondere über Frauen und List.
Loddfáfnismál (111–138): Anweisungen an Loddfáfnir, einen symbolischen Schüler.
Rúnatál (139–145): Odins Selbstopfer und Erwerb der Runen.
Ljóðatal (146–165): Liste magischer Zauberlieder.
Odin tritt in der Hávamál als der "Hohe" auf – ein weiser, reisender Gott, der sowohl Allvater als auch Wanderer ist. Er vermittelt seine Lehren aus einer Perspektive großer Lebenserfahrung und spiritueller Weisheit. Seine Worte sind teils pragmatisch, teils philosophisch und tief mythologisch – und nie ohne den Gedanken des Opfers und der Erkenntnis.
Besonders deutlich wird das im Runenlied (Rúnatál), wo Odin sich selbst am Weltenbaum Yggdrasil aufopfert, um die Geheimnisse der Runen zu erlangen. Diese Szene ist einer der eindrucksvollsten spirituellen Momente der gesamten nordischen Mythologie.
Hier einige beispielhafte Kommentare zu bedeutenden Versen der Hávamál:
Vers 1: "Der Ausgänge halber bevor du eingehst..." – Schon der erste Vers betont Vorsicht, Umsicht und das Bewusstsein möglicher Gefahren: Ein Motto für das ganze Leben.
Vers 10: "Nicht beßre Bürde bringt man auf Reisen als Wißen und Weisheit" – Wissen ist wertvoller als Reichtum; eine für damalige Zeiten außergewöhnlich moderne Sichtweise.
Vers 75–76: "Das Vieh stirbt, die Freunde sterben, endlich stirbt man selbst; doch eines weiß ich, daß immer bleibt: das Urteil über den Toten." – Diese Zeilen zeigen eine existenzialistische Ethik: Ehre, Nachruhm und Taten überdauern das Leben.
Vers 139–140: Odins Opferung – Diese Verse stehen im Zentrum der mythologischen Lehre: Opfer bringt Einsicht, Leiden bringt Erkenntnis.
Die Hávamál haben weit über die germanistische Forschung hinaus Bedeutung:
1. In der Wissenschaft
Die Hávamál dienen als Quelle für die Erforschung nordgermanischer Weltbilder, Sprachentwicklung, Ethikvorstellungen und religiöser Praktiken.
Sie sind ein Schlüsseldokument für die Entwicklung der Runenkultur.
2. In Spiritualität und Esoterik
Viele Runenanwender, Neuheiden oder Praktizierende der nordischen Spiritualität nutzen die Hávamál als Leitfaden für ihr Leben.
Die Runenlieder (Ljóðatal) gelten als Quelle von Zaubersprüchen, Orakelmethoden und spirituellem Wissen.
3. In Kunst, Musik und Literatur
Die bildhafte Sprache und Tiefe der Strophen inspiriert Künstler, Illustratoren, Musiker und Poeten weltweit.
In Fantasy-Literatur und Heavy Metal ist die Hávamál häufig präsent.
4. In Popkultur und Gaming
Spiele wie God of War oder Assassin’s Creed Valhalla greifen direkt auf Hávamál-Zitate zurück.
Serien wie Vikings zitieren indirekt Lehren aus der Hávamál.
Die berühmteste deutsche Übersetzung stammt von Karl Joseph Simrock (1851). Seine poetische Sprache hat viele Generationen geprägt, gilt aber heute als leicht veraltet.
Weitere bekannte Übersetzungen:
Bellows (englisch, 1936): Eine der präzisesten englischen Fassungen.
Neckel/Kuhn (20. Jh.): Wissenschaftlich fundiert, für Fachleute geeignet.
Jede Übersetzung legt andere Schwerpunkte – Simrock etwa dichtet in freier Form, während Bellows näher am Original bleibt.
Gnomische Sprüche
Vers 1
Der Ausgänge halber bevor du eingehst
Stelle dich sicher,
Denn ungewiss ist, wo Widersacher
Im Hause halten.
Kommentar:
Dieser Vers lehrt Vorsicht und Achtsamkeit. Bevor man einen Raum betritt oder eine neue Situation angeht, sollte man sich orientieren: Wer ist da, welche Stimmung herrscht, gibt es potenzielle Gefahren? Das gilt nicht nur für wörtliche Häuser, sondern auch für neue Gruppen, Projekte oder Beziehungen. Odin mahnt, nicht blindlings hineinzuplatzen, sondern mit klarem Blick und gesunder Wachsamkeit aufzutreten. Wer seine Umgebung prüft, schützt sich selbst und begegnet anderen souveräner. Vorsicht ist keine Schwäche, sondern ein Zeichen von Stärke und Respekt vor sich und den Umständen.
Vers 2
Heil dem Geber! Der Gast ist gekommen:
Wo soll er sitzen?
Atemlos ist, der unterwegs
Sein Geschäft besorgen soll.
Kommentar:
Gastfreundschaft war im Norden heilig, denn Reisen waren beschwerlich. Dieser Vers erinnert daran, dass jeder Gast willkommen geheißen werden sollte, egal, wie fremd er erscheint. Es geht um Respekt, Wärme und ein Gefühl von Zugehörigkeit. Für den Reisenden ist die Ankunft oft mit Erleichterung verbunden, er braucht Ruhe und Aufmerksamkeit. Heute übersetzt bedeutet das: neuen Menschen Platz geben, ihnen zuhören und sie ernst nehmen. Wer großzügig empfängt, schafft Vertrauen. Odin mahnt, dass der erste Eindruck entscheidend ist: Ein freundlicher Empfang öffnet Herzen und stärkt Beziehungen.
Vers 3
Wärme wünscht der vom Wege kommt
Mit erkaltetem Knie;
Mit Kost und Kleidern erquicke den Wandrer,
Der über Felsen fuhr.
Kommentar:
Hier zeigt sich Mitgefühl als Kernwert. Wer erschöpft von der Reise kommt, braucht nicht Reichtum, sondern Wärme und Fürsorge. Ein einfacher Akt – Feuer, Kleidung, Speise – kann Leben retten. Diese Haltung gilt zeitlos: Jeder Mensch, der Mühen trägt, verdient Hilfe und Zuwendung. Gastfreundschaft ist nicht Luxus, sondern Menschlichkeit. In moderner Deutung heißt das, den Menschen nicht an seiner äußeren Stärke zu messen, sondern in seinen Momenten der Schwäche zu unterstützen. Odin betont, dass wahre Größe darin liegt, anderen die Hand zu reichen, wenn sie frieren oder wanken.
Vers 4
Wasser bedarf, der Bewirtung sucht,
Ein Handtuch und holde Nötigung.
Mit guter Begegnung erlangt man vom Gaste
Wort und Wiedervergeltung.
Kommentar:
Die Gastfreundschaft zeigt sich in den kleinen Dingen: Wasser, ein Handtuch, ein freundliches Wort. Es sind Gesten, die zeigen: „Du bist willkommen.“ Daraus erwächst nicht nur Dankbarkeit, sondern auch Verbundenheit. Odin erinnert daran, dass Freundlichkeit oft den größten Ertrag bringt – nicht materiell, sondern in Anerkennung, Wort und Gegenwert. Auch heute gilt: Respektvoller Umgang schafft Vertrauen. Wer anderen Wertschätzung zeigt, erntet Achtung und oft unerwartete Unterstützung. Großzügigkeit im Kleinen baut Brücken im Großen. Es sind diese Gesten, die einen guten Ruf und dauerhafte Verbindungen schaffen.
Vers 5
Witz bedarf man auf weiter Reise;
Daheim hat man Nachsicht.
Zum Augengespött wird der Unwissende,
Der bei Sinnigen sitzt.
Kommentar:
Weisheit ist das beste Reisegepäck. Auf Reisen trifft man auf neue Menschen, Kulturen und Situationen. Wer keinen Verstand besitzt, läuft Gefahr, ausgelacht zu werden oder in Schwierigkeiten zu geraten. Zuhause mögen Nachsicht und Gewohnheit manches ausgleichen, doch in der Fremde zählt, wie klug und umsichtig man sich verhält. Odin mahnt, Wissen zu suchen und Verständnis zu üben, bevor man handelt. In moderner Sprache: Bildung, Offenheit und Neugier sind Schlüssel zu Respekt und Sicherheit. Wer unvorbereitet und unbedacht ist, verliert Ansehen und macht sich angreifbar.
Vers 6
Doch steife sich niemand auf seinen Verstand,
Acht hab er immer.
Wer klug und wortkarg zum Wirte kommt
Schadet sich selten:
Denn festern Freund als kluge Vorsicht
Mag der Mann nicht haben.
Kommentar:
Dieser Vers warnt vor Überheblichkeit. Selbst wenn man sich klug wähnt, sollte man stets wachsam und bescheiden bleiben. Weisheit besteht nicht im Reden, sondern im Zuhören und Abwägen. Odin rät, wortkarg und bedacht aufzutreten – ein kluger Gast schadet sich nicht. Vorsicht und Selbstkontrolle sind wertvolle Begleiter, die stärker sind als jede äußere Waffe. Der eigentliche Feind ist oft das eigene Ego, das zur Selbstüberschätzung verleitet. Wer Demut bewahrt, gewinnt Respekt und Freunde. Klugheit ist hier nicht Wissen, sondern Haltung: achtsam, leise, bedacht.
Vers 7
Vorsichtiger Mann, der zum Mahle kommt,
Schweigt lauschend still.
Mit Ohren horcht er, mit Augen späht er
Und forscht zuvor verständig.
Kommentar:
Der vorsichtige Mann beobachtet zuerst, bevor er spricht oder handelt. Schweigen ist nicht Schwäche, sondern Stärke, wenn es mit Aufmerksamkeit verbunden ist. Augen und Ohren offen zu halten bedeutet, die Situation zu verstehen, bevor man sich selbst zeigt. Dieser Vers erinnert daran, dass Zuhören oft mächtiger ist als Reden. In neuen Umgebungen oder unter Fremden ist kluges Beobachten die beste Verteidigung und der beste Weg zur Erkenntnis. In moderner Anwendung: erst wahrnehmen, dann handeln. Wer Geduld hat, vermeidet Fehler und gewinnt durch Verständnis Respekt.
Vers 8
Selig ist, der sich erwirbt
Lob und guten Leumund.
Unser Eigentum ist doch ungewiss
In des andern Brust.
Kommentar:
Odin betont hier den Wert von Ruf und Ansehen. Besitz ist vergänglich, aber ein guter Leumund lebt in den Herzen anderer weiter. Es geht darum, mit Würde zu handeln und sich Respekt zu verdienen. Unser Ruf liegt in den Händen anderer – wir besitzen ihn nicht selbst. Daher ist es wichtig, wie wir wirken und was wir hinterlassen. Großzügigkeit, Ehrlichkeit und Ehre sind das Fundament eines guten Namens. In moderner Deutung: Der wahre Reichtum ist nicht materiell, sondern die Wertschätzung, die Menschen uns freiwillig entgegenbringen.
Vers 9
Selig ist, wer selbst sich mag
Im Leben löblich raten,
Denn übler Rat wird oft dem Mann
Aus des andern Brust.
Kommentar:
Dieser Vers hebt die Selbstverantwortung hervor. Wer klug genug ist, sich selbst guten Rat zu geben, ist gesegnet. Man sollte lernen, die eigene Stimme zu hören und unabhängige Entscheidungen zu treffen. Fremder Rat kann hilfreich sein, ist aber nicht immer verlässlich. Oft entspringt er fremden Interessen oder Missverständnissen. Odin mahnt: Vertraue deinem eigenen Urteil, entwickle innere Stärke und Verstand. Heute bedeutet das: Selbstreflexion üben, Entscheidungen bewusst treffen und nicht blind den Meinungen anderer folgen. Wer sich selbst führen kann, ist frei und unabhängig.
Vers 10
Nicht bessre Bürde bringt man auf Reisen
Als Wissen und Weisheit.
So frommt das Gold in der Fremde nicht,
In der Not ist nichts so nütze.
Kommentar:
Wissen und Weisheit sind die beste Reisebegleitung. Gold und Besitz können verloren gehen, doch Verstand und Erfahrung bleiben. Odin macht deutlich, dass materieller Reichtum im Ernstfall wenig nützt – es sind Intelligenz, Können und kluge Entscheidungen, die retten. Bildung, Erfahrung und gesunder Menschenverstand sind die eigentlichen Schätze. In moderner Auslegung: Investiere in deine Fähigkeiten, nicht nur in Besitz. Dein Wissen ist dein Werkzeugkasten, der dich überall weiterbringt. Während Reichtum vergehen kann, ist Weisheit ein unzerstörbares Gut, das dich in allen Lebenslagen schützt und stärkt.
Vers 11
Nicht üblern Begleiter gibt es auf Reisen
Als Betrunkenheit ist,
Und nicht so gut als mancher glaubt
Ist Ael den Erdensöhnen,
Denn um so minder je mehr man trinkt
Hat man seiner Sinne Macht.
Kommentar:
Dieser Vers warnt vor dem Verlust der Selbstbeherrschung durch Trunkenheit. Alkohol mag verlockend sein, doch wer sich ihm zu sehr hingibt, verliert die Macht über seine Sinne. Odin hebt hervor, dass Selbstkontrolle wichtiger ist als kurzfristiges Vergnügen. Der Rausch mag süß erscheinen, doch er schwächt Charakter, Urteilskraft und Würde. In moderner Deutung bedeutet das, Maß zu halten, Versuchungen nicht die Oberhand zu geben und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Wahre Stärke liegt darin, im Genuss Grenzen zu kennen. Wer Herr über sich bleibt, ist frei.
Vers 12
Der Vergessenheit Reiher überrauscht Gelage
Und stiehlt die Besinnung.
Des Vogels Gefieder befing auch mich
In Gunnlöds Haus und Gehege.
Kommentar:
Hier beschreibt Odin Trunkenheit wie einen Raubvogel, der über Gelage schwebt und den Menschen die Vernunft entreißt. Der „Vergessenheitsreiher“ steht für den Verlust der Erinnerung, Klarheit und Selbstbeherrschung. Odin gesteht, dass selbst er dem schon erlegen ist – in Gunnlöds Haus. Das zeigt: Jeder, selbst der Weise, kann schwach werden. Die Lehre ist Demut und Wachsamkeit: niemand ist unfehlbar. In moderner Sicht bedeutet das, seine eigenen Schwächen zu kennen und ihnen bewusst zu begegnen. Wer Einsicht in die eigene Fehlbarkeit hat, kann besser wachsen und reifen.
Vers 13
Trunken ward ich und übertrunken
In des schlauen Fialars Felsen.
Trunk mag taugen, wenn man ungetrübt
Sich den Sinn bewahrt.
Kommentar:
Odin berichtet von eigener Erfahrung: übermäßiger Trunk im Haus des Riesen Fialar. Er erkennt, dass Alkohol in Maßen Freude bereiten kann, doch nur, wenn man die Klarheit des Geistes bewahrt. Die Botschaft ist nicht, das Trinken zu verbieten, sondern zur Mäßigung aufzurufen. Genuss darf nicht in Selbstverlust umschlagen. In moderner Sprache: Ein Glas kann Verbindung und Freude schaffen, doch Übermaß zerstört Selbstachtung und wirkt zerstörerisch. Der wahre Wert liegt darin, Freude mit Besonnenheit zu verbinden. Die Balance zwischen Lust und Maß ist Ausdruck innerer Stärke.
Vers 14
Schweigsam und vorsichtig sei des Fürsten Sohn
Und kühn im Kampf.
Heiter und wohlgemut erweise sich jeder
Bis zum Todestag.
Kommentar:
Dieser Vers beschreibt das Idealbild eines Menschen – besonders eines Fürstensohns, also eines Vorbildes: schweigsam und vorsichtig, wenn es ums Denken geht, kühn und mutig im Kampf, heiter und freundlich im Alltag. Bis zum letzten Tag soll man Mut und Zuversicht bewahren. Es geht um die Balance zwischen Ernsthaftigkeit und Lebensfreude, Vorsicht und Entschlossenheit. In moderner Auslegung: Ein guter Mensch vereint Klugheit, Mut und Frohsinn. Er ist kein Schwarzseher, sondern trägt Licht und Stärke in die Welt. So wird er respektiert und geliebt.
Vers 15
Der unwerte Mann meint ewig zu leben,
Wenn er vor Gefechten flieht.
Das Alter gönnt ihm doch endlich nicht Frieden.
Obwohl der Speer ihn spart.
Kommentar:
Feigheit ist keine Lösung. Wer vor Gefahren flieht, hofft, dadurch ewig zu leben, doch das Schicksal holt jeden ein. Alter und Tod sind unausweichlich. Odin erinnert daran, dass man mutig leben soll, statt Sicherheit um jeden Preis zu suchen. Mut bedeutet nicht, blindlings ins Verderben zu laufen, sondern Verantwortung und Standhaftigkeit zu zeigen. In moderner Deutung: Wer immer Konflikten ausweicht, verliert Lebenskraft und Würde. Ein mutiges Leben ist erfüllt, auch wenn es kürzer sein mag. Feigheit mag Zeit schenken, aber keinen Frieden.
Vers 16
Der Tölpel glotzt, wenn er zum Gastmahl kommt,
Murmelnd sitzt er und mault.
Hat er sein Teil getrunken hernach,
So sieht man welchen Sinns er ist.
Kommentar:
Der törichte Mensch zeigt sich beim Gastmahl: er sitzt schweigend, mault oder starrt, unfähig, sich würdevoll einzubringen. Hat er aber getrunken, verrät er seinen wahren, ungeschliffenen Charakter. Der Vers lehrt, dass Verhalten im gesellschaftlichen Rahmen ein Spiegel innerer Reife ist. Disziplin, Gesprächskultur und Haltung sind Zeichen von Bildung und Würde. In moderner Sprache: Wer nur meckert oder sich unbeherrscht gibt, macht sich lächerlich. Der Weise kennt Maß und Ausdruck. Wie man sich in Gesellschaft verhält, zeigt mehr über die Persönlichkeit als Worte allein.
Vers 17
Der weiß allein, der weit gereist ist,
Und vieles hat erfahren,
Welches Witzes jeglicher waltet,
Wofern ihm selbst der Sinn nicht fehlt.
Kommentar:
Reisen erweitern den Horizont. Wer viel gesehen und erlebt hat, erkennt, wie unterschiedlich Menschen sind und welchen Witz, Verstand oder Unsinn sie verkörpern. Wissen kommt nicht nur aus Büchern, sondern aus Erfahrung. Doch Odin betont: man braucht einen klaren Sinn, um Erkenntnisse wirklich zu begreifen. Erfahrung ohne Reflexion ist wertlos. In moderner Deutung: Offene Augen und Bereitschaft zum Lernen machen weise. Wer neugierig, lernfähig und selbstkritisch ist, gewinnt tieferes Verständnis. Die Welt lehrt den, der bereit ist zuzuhören, zu beobachten und zu reflektieren.
Vers 18
Lange zum Becher nur, doch leer ihn mit Maß,
Sprich gut oder schweig.
Niemand wird es ein Laster nennen,
Wenn du früh zur Ruhe fährst.
Kommentar:
Dieser Vers empfiehlt Maß beim Trinken und Reden. Den Becher soll man zwar oft heben, ihn aber maßvoll leeren. Wer spricht, soll Gutes sagen – oder schweigen. Auch das frühe Aufhören mit dem Gelage ist keine Schande, sondern zeigt Vernunft. Odin mahnt zur Balance: Freude ja, aber ohne Exzess. In moderner Deutung: Selbstdisziplin ist kein Makel, sondern ein Zeichen von Reife. Wer sich Pausen gönnt, rechtzeitig Grenzen zieht und Schweigen als Stärke nutzt, bewahrt Würde und Gesundheit. Mäßigung und Klarheit sind wahre Tugenden.
Vers 19
Der gierige Schlemmer, vergisst er der Tischzucht,
Schlingt sich schwere Krankheit an;
Oft wirkt Verspottung, wenn er zu Weisen kommt,
Törichtem Mann sein Magen.
Kommentar:
Der unbeherrschte Schlemmer schadet sich selbst: durch Völlerei lädt er Krankheit und Spott auf sich. Vor allem in Gesellschaft von Klugen wirkt gieriges Verhalten peinlich und entwürdigend. Odin lehrt hier Selbstkontrolle und Disziplin als Schlüssel zur Würde. Maßvolles Essen und Trinken zeigen Respekt vor sich und anderen. In moderner Sprache: Wer in Gesellschaft die Kontrolle verliert, offenbart innere Schwäche. Wahre Stärke liegt in der Fähigkeit, Maß zu halten. Es geht nicht um Verzicht, sondern um bewusstes Genießen, das Gesundheit und Ansehen gleichermaßen erhält.
Vers 20
Selbst Herden wissen, wann zur Heimkehr Zeit ist
Und gehn vom Grase willig;
Der Unkluge kennt allein nicht
Seines Magens Maß.
Kommentar:
Selbst die Tiere kennen ihr Maß und kehren rechtzeitig heim, wenn es genug ist. Der törichte Mensch jedoch kennt keine Grenzen, besonders wenn es um den Magen geht. Odin macht deutlich: Wer nicht lernt, Maß zu halten, steht hinter Tieren zurück. Maßlosigkeit ist ein Zeichen von Torheit und führt zu Spott und Krankheit. In moderner Deutung bedeutet das: Selbstkontrolle ist Grundlage jeder Stärke. Wer seine Bedürfnisse nicht zügelt, verliert Freiheit. Bewusstsein und Maß in Genuss und Konsum sind Kernwerte, die Menschlichkeit erst ausmachen.
Vers 21
Der Armselige, Übelgesinnte
Hohnlacht über alles
Und weiß doch selbst nicht was er wissen sollte,
Dass er nicht fehlerfrei ist.
Kommentar:
Dieser Vers warnt vor Spott und Hochmut. Wer andere ständig verhöhnt, zeigt damit nicht Stärke, sondern innere Armut. Der „Armselige“ ist einer, der keine Einsicht in seine eigenen Fehler hat und glaubt, über allem zu stehen. Odin erinnert daran, dass niemand fehlerfrei ist. Wer Demut und Selbstreflexion übt, erkennt, dass auch er Schwächen trägt. Spott führt zu Feindschaft, Demut dagegen zu Respekt. In moderner Deutung: Wer über andere urteilt, ohne sich selbst zu prüfen, zeigt mangelnde Reife. Wahre Stärke liegt in Selbsterkenntnis und Empathie.
Vers 22
Unweiser Mann durchwacht die Nächte
Und sorgt um alle Sachen;
Matt nur ist er, wenn der Morgen kommt,
Der Jammer wahrt wie er war.
Kommentar:
Der unweise Mensch verliert den Schlaf durch ständige Sorgen. Er grübelt und wälzt Gedanken, doch seine Probleme lösen sich nicht – er bleibt am Morgen genauso belastet wie zuvor, nur erschöpfter. Odin macht deutlich, dass Sorgen allein nichts ändern. Weisheit besteht darin, zwischen dem zu unterscheiden, was man ändern kann, und dem, was man akzeptieren muss. In moderner Sicht: Grübeln raubt Energie, Handeln schafft Lösungen. Wer Gelassenheit übt, bewahrt Kraft und Klarheit. Sorgen sind menschlich, aber klug ist, sie nicht zum ständigen Begleiter werden zu lassen.
Vers 23
Ein unkluger Mann meint sich alle hold,
Die ihn lieblich anlachen.
Er versieht es sich nicht, wenn sie Schlimmes von ihm reden
So er zu Klügern kommt.
Kommentar:
Der törichte Mensch hält sich für beliebt, nur weil andere ihn anlächeln. Er erkennt nicht, dass viele Worte Fassade sind und ehrliche Kritik fehlt. Sobald er auf wirklich Kluge trifft, entlarven diese schnell sein Unvermögen. Die Lehre: Wahre Beliebtheit entsteht nicht durch oberflächliches Gefallen, sondern durch Charakter und Aufrichtigkeit. In moderner Sprache: Likes und Komplimente sind nicht immer echtes Ansehen. Wer sich nur vom Schein täuschen lässt, wird enttäuscht. Odin mahnt, echte Freundschaft und ehrliche Worte höher zu schätzen als oberflächliche Anerkennung.
Vers 24
Ein unkluger Mann meint'sich alle hold,
Die ihm kein Widerwort geben;
Kommt er vor Gericht, so erkennt er bald,
Dass er wenig Anwälte hat.
Kommentar:
Hier wird die Blindheit des Unklugen deutlich: Er glaubt, Zustimmung sei Anerkennung. Doch wahre Bewährung zeigt sich erst im Konflikt, etwa vor Gericht, wenn man Unterstützung braucht. Dann merkt er, dass die vermeintlichen Freunde nicht an seiner Seite stehen. Odin zeigt, dass echte Verbündete nicht die sind, die immer nicken, sondern die, die auch im Ernstfall Haltung zeigen. In moderner Deutung: Wer nur Harmonie sucht, sammelt keine wahren Freunde. Kritik und Widerworte sind wertvoll, weil sie Echtheit verraten. Oberflächliche Gefolgschaft ist trügerisch.
Vers 25
Ein unkluger Mann meint, alles zu können,
Wenn er sich einmal zu wahren wusste.
Doch wenig weiß er was er antworten soll,
Wenn er mit Schwerem versucht wird.
Kommentar:
Der Unkluge überschätzt seine Fähigkeiten nach kleinen Erfolgen. Er meint, alles zu können, weil er sich einmal behaupten konnte. Doch in wirklich schwierigen Situationen zeigt sich, wie wenig er weiß. Odin erinnert daran, dass Demut und Lernbereitschaft wichtiger sind als Selbstüberschätzung. Wahre Stärke liegt im Eingeständnis eigener Grenzen und im Willen, weiterzulernen. In moderner Sicht: Arroganz nach kleinen Erfolgen ist gefährlich. Prüfungen des Lebens entlarven schnell, ob Substanz vorhanden ist. Klug ist, Erfolge als Ansporn zu sehen, nicht als Beweis völliger Meisterschaft.
Vers 26
Ein unkluger Mann, der zu andern kommt,
Schweigt am besten still.
Niemand bemerkt, dass er nichts versteht,
So lang er zu sprechen scheut.
Nur freilich weiß wer wenig weiß
Auch das nicht, wann er schweigen soll.
Kommentar:
Manchmal ist Schweigen die beste Strategie. Ein Unkluger, der in fremder Gesellschaft still bleibt, entgeht der Entlarvung seiner Unwissenheit. Doch das Problem ist: Wer wirklich wenig weiß, erkennt oft nicht einmal, wann Schweigen angebracht wäre. Odin lehrt hier Bescheidenheit und Beobachtung. Wer zuhört, lernt; wer vorschnell redet, offenbart Torheit. In moderner Deutung: In neuen Situationen erst beobachten, dann sprechen. Schweigen ist oft klüger als unbedachte Worte. Der Weise erkennt den richtigen Zeitpunkt. Der Tor hingegen verrät sich selbst, weil er seine Grenzen nicht kennt.
Vers 27
Weise dünkt sich schon wer zu fragen weiß
Und zu sagen versteht;
Doch Unwissenheit mag kein Mensch verbergen,
Der mit Leuten leben muss.
Kommentar:
Schon Fragen zu stellen und sinnvolle Antworten geben zu können, macht einen Menschen klug erscheinen. Doch wahre Unwissenheit kann man nicht auf Dauer verbergen, wenn man unter Menschen lebt. Wer im Austausch steht, wird schnell entlarvt, wenn er nur vorgibt, klug zu sein. Odin mahnt, dass Bildung und echtes Wissen nicht durch Schauspiel ersetzt werden können. In moderner Deutung: Authentizität schlägt Fassade. Wer fragt, zeigt Lernbereitschaft. Wer nur vortäuscht, wird entlarvt. Klugheit heißt, ehrlich die eigenen Grenzen zu erkennen und bereit zu sein, Neues aufzunehmen.
Vers 28
Der schwatzt zuviel, der nimmer geschweigt
Eitel unnützer Worte.
Die zappelnde Zunge, die kein Zaum verhält,
Ergellt sich selten Gutes.
Kommentar:
Wer zu viel redet, verliert Respekt. Leere Worte und endloses Geschwätz führen selten zu Gutem. Odin warnt vor der „zappelnden Zunge“, die niemand zügeln kann – sie bringt selten Nutzen, sondern eher Ärger und Spott. Worte haben Macht, doch ihre Inflation schwächt den Sprecher. In moderner Sprache: Qualität zählt mehr als Quantität. Klug ist, wer mit Bedacht spricht, anstatt ständig alles zu kommentieren. Schweigen kann mehr Stärke zeigen als endloses Reden. Ein kontrollierter Umgang mit Worten ist ein Zeichen von Charakter, Reife und innerer Disziplin.
Vers 29
Mach nicht zum Spott der Augen den Mann,
Der vertrauend Schutz will suchen.
Klug dünkt sich leicht, der von keinem befragt wird
Und mit heiler Haut daheim sitzt.
Kommentar:
Vertrauliches Vertrauen darf nie zum Spott werden. Wer den Schwachen verspottet, zeigt nicht Klugheit, sondern Niedertracht. Oft dünkt sich ein Mensch klug, nur weil er sicher daheim sitzt und nicht herausgefordert wird. Doch wahre Stärke zeigt sich im Umgang mit Hilfesuchenden. Odin lehrt: Schutz zu gewähren ist ehrenvoll, Spott ist schändlich. In moderner Sicht: Macht darf nicht zum Missbrauch führen. Wer Menschen in Not ausnutzt oder verlacht, entlarvt seine eigene Armseligkeit. Ehre zeigt sich darin, wie man die Schwachen behandelt – nicht die Starken.
Vers 30
Klug dünkt sich gern, wer Gast den Gast
Verhöhnend, Heil in der Flucht sucht.
Oft merkt zu spät, der beim Mahle Hohn sprach,
Wie grämlichen Feind er ergrimmte.
Kommentar:
Spott beim Gastmahl mag harmlos erscheinen, doch er kann tiefe Feindschaft wecken. Wer andere lächerlich macht, um sich selbst zu erhöhen, bemerkt oft zu spät die Folgen. Odin mahnt, dass Worte Waffen sein können, die tiefer schneiden als Schwerter. Ein Scherz kann leicht zur Feindschaft führen, wenn er aus Hohn geboren ist. In moderner Deutung: Respekt im Umgang ist essenziell. Humor ja, aber niemals auf Kosten anderer. Wer andere demütigt, baut Feinde. Wer Achtung wahrt, baut Freundschaften. Worte prägen, oft stärker als Taten.
Vers 31
Zu oft geschiehts, dass sonst nicht Verfeindete
Sich als Tischgesellen schrauben.
Dieses Aufziehn wird ewig währen:
Der Gast grollt dem Gaste.
Kommentar:
Streit entsteht oft dort, wo er nicht nötig wäre – besonders bei gemeinsamen Mahlzeiten. Was als kleine Neckerei beginnt, kann dauerhafte Feindschaft säen. Odin mahnt, achtsam mit Worten und Gesten umzugehen, denn selbst unter Freunden oder Bekannten kann Spott tiefe Gräben reißen. Essen soll verbinden, nicht trennen. In moderner Deutung: Konflikte entstehen häufig durch Kleinigkeiten, die unnötig aufgebauscht werden. Respekt und Zurückhaltung in Gemeinschaft bewahren den Frieden. Wer beim Miteinander Maß und Achtung wahrt, sorgt dafür, dass Tischgemeinschaft Freundschaft stärkt, anstatt sie zu zerstören.
Vers 32
Bei Zeiten nehme den Imbiss zu sich,
Der nicht zu gutem Freunde fährt.
Sonst sitzt er und schnappt und will verschmachten
Und hat zum Reden nicht Ruhe.
Kommentar:
Dieser Vers lehrt, dass man sich auf Begegnungen vorbereiten soll. Wer mit leerem Magen zu einem weniger vertrauten Freund kommt, leidet und ist unruhig, unfähig, frei zu sprechen. Odin betont: Grundbedürfnisse müssen gedeckt sein, damit man wirklich präsent und gelassen auftreten kann. In moderner Deutung: Selbstfürsorge ist Voraussetzung für gutes Miteinander. Wer ausgehungert oder erschöpft in Gespräche geht, kann weder genießen noch authentisch sein. Achte zuerst auf dein eigenes Wohl, dann kannst du anderen wirklich begegnen. Balance zwischen Eigenfürsorge und Gemeinschaft ist hier die Lehre.
Vers 33
Ein Umweg ist's zum untreuen Freunde,
Wohnt er gleich am Wege;
Zum trauten Freunde führt ein Richtsteig
Wie weit der Weg sich wende.
Kommentar:
Der Weg zum untreuen Freund ist schwer, selbst wenn er nah wohnt – Vertrauen fehlt. Zum treuen Freund jedoch führt jeder Weg leicht, auch wenn er weit ist. Odin betont, dass Distanz keine Rolle spielt, wenn echtes Vertrauen besteht. Nähe ist nicht Geografie, sondern Herzensbindung. In moderner Deutung: Wahre Freundschaft überwindet Entfernung, falsche Freundschaft schafft Distanz trotz räumlicher Nähe. Beziehungen leben von Verlässlichkeit, nicht von Bequemlichkeit. Die Lehre: Wähle deine Freunde weise, und pflege jene Verbindungen, die auf Vertrauen und gegenseitigem Respekt gegründet sind.
Vers 34
Zu gehen schickt sich, nicht zu gasten stets
An derselben Statt.
Der Liebe wird leid, der lange weilt
In des andern Haus.
Kommentar:
Zu langes Bleiben kann auch gute Freundschaft belasten. Wer sich zu sehr aufdrängt, wird irgendwann zur Last. Odin mahnt, dass Maß und Ausgleich auch in Beziehungen wichtig sind. Gastfreundschaft ist wertvoll, doch sie lebt von Respekt gegenüber den Grenzen des anderen. In moderner Sprache: Nähe ist schön, doch jeder braucht Raum. Freundschaft bedeutet nicht ständige Präsenz, sondern ein gesundes Gleichgewicht aus Gemeinsamkeit und Distanz. Wer dies achtet, bewahrt Wertschätzung und Freude. Dauerhafte Vertrautheit entsteht nicht durch Übermaß, sondern durch bewusstes, respektvolles Miteinander.
Vers 35
Eigen Haus, ob eng, geht vor,
Daheim bist du Herr,
Zwei Ziegen nur und dazu ein Strohdach
Ist besser als Betteln.
Kommentar:
Eigenes Heim, sei es noch so bescheiden, bedeutet Freiheit und Würde. Selbst mit wenig Besitz bleibt man Herr im eigenen Haus. Odin betont, dass Selbstständigkeit und Eigenständigkeit wertvoller sind als Abhängigkeit. Besser ein kleines Dach und einfache Mittel, als auf die Großzügigkeit anderer angewiesen zu sein. In moderner Deutung: Selbstbestimmung ist wichtiger als Komfort. Freiheit entsteht aus Selbstständigkeit, nicht aus Reichtum. Wer ein einfaches, eigenes Leben führt, hat mehr Würde als jemand, der im Überfluss lebt, aber abhängig und bittend vor anderen stehen muss.
Vers 36
Eigen Haus, ob eng, geht vor,
Daheim bist du Herr.
Das Herz blutet jedem, der erbitten muss
Sein Mahl alle Mittag.
Kommentar:
Hier wird derselbe Gedanke vertieft: Wer gezwungen ist, jeden Tag um Mahlzeiten zu bitten, leidet innerlich. Abhängigkeit von anderen nagt am Herzen. Odin betont, dass Selbstbestimmung und Unabhängigkeit zentrale Werte sind, die Stolz und innere Ruhe sichern. In moderner Sicht: Es ist besser, wenig Eigenes zu besitzen, als völlig abhängig zu sein. Selbst kleine Schritte zur Eigenständigkeit sind wertvoll. Die Lehre lautet: Würde liegt nicht im Luxus, sondern in der Freiheit, über sich selbst zu bestimmen. Selbst ein schlichtes Zuhause schenkt Stärke und Stolz.
Vers 37
Von seinen Waffen weiche niemand
Einen Schritt im freien Feld:
Niemand weiß unterwegs, wie bald
Er seines Speers bedarf.
Kommentar:
Niemand soll sich von seinen Waffen trennen, wenn er im offenen Feld ist. Gefahr kann jederzeit auftreten, und wer unbewaffnet ist, ist schutzlos. Wörtlich auf Waffen bezogen, meint Odin aber auch allgemein: Verliere nicht deine Schutzmittel, deine Vorsicht, deine innere Stärke. In moderner Deutung: Sei vorbereitet auf das Unerwartete. Ob Wissen, Fähigkeiten oder innere Haltung – die eigene „Waffe“ sollte man nie ablegen. Wer vorbereitet ist, begegnet dem Leben stärker und selbstbewusster. Achtsamkeit und Bereitschaft sind Teil der Lebensklugheit, die Schutz und Respekt sichern.
Vers 38
Nie fand ich so milden und kostfreien Mann,
Der nicht gerne Gab empfing,
Mit seinem Gute so freigebig keinen,
Dem Lohn wär leid gewesen.
Kommentar:
Menschen geben gern, aber ebenso gern empfangen sie. Selbst der Großzügigste freut sich über Geschenke, und selbst der Freigiebigste nimmt gerne Lohn. Odin erinnert daran, dass Geben und Nehmen zum sozialen Miteinander gehören. Großzügigkeit ist keine Einbahnstraße, sondern ein Austausch, der Verbundenheit schafft. In moderner Sicht: Es ist keine Schwäche, Geschenke oder Hilfe anzunehmen. Wer gibt, darf auch empfangen. Beziehungen werden gestärkt, wenn beide Seiten in diesem Fluss stehen. Stolz, nur zu geben, aber nichts anzunehmen, bricht das Gleichgewicht. Gemeinschaft lebt von Gegenseitigkeit.
Vers 39
Des Vermögens, das der Mann erwarb,
Soll er sich selbst nicht Abbruch tun:
Oft spart man dem Leiden was man dem Lieben bestimmt;
Viel fügt sich schlimmer als man denkt.
Kommentar:
Reichtum soll sinnvoll genutzt werden. Wer zu sehr spart, tut sich selbst und seinen Liebsten Unrecht. Oft horten Menschen für ungewisse Zeiten und vergessen dabei das Leben im Hier und Jetzt. Odin mahnt: Übermäßige Vorsicht kann Leid bringen, da vieles anders kommt, als man denkt. In moderner Deutung: Spare klug, aber lebe auch. Besitz ist Mittel, nicht Ziel. Freude und Liebe dürfen nicht dem Zwang zum Horten geopfert werden. Weise ist, wer Maß findet: genug für die Zukunft sichern, ohne das Heute zu verlieren.
Vers 40
Freunde sollen mit Waffen und Gewändern sich erfreun,
Den schönsten, die sie besitzen:
Gab und Gegengabe begründet Freundschaft,
Wenn sonst nichts entgegen steht.
Kommentar:
Freundschaft wird durch Geschenke gestärkt – nicht durch den Wert, sondern durch die Bedeutung. Waffen und Gewänder sind Symbole von Vertrauen, Schutz und Wertschätzung. Odin betont, dass Gegenseitigkeit der Kern echter Freundschaft ist. Wer schenkt und empfängt, baut Bindung und Respekt. In moderner Deutung: Geschenke müssen nicht materiell sein. Zeit, Aufmerksamkeit und Unterstützung sind ebenso wertvoll. Wichtig ist, dass Beziehungen von beiderseitiger Bereitschaft getragen werden. Freundschaft lebt von Geben und Gegengeben, von Achtsamkeit und Anerkennung. So entsteht ein Band, das über Besitz hinausgeht.
Vers 41
Der Freund soll dem Freunde Freundschaft bewähren
Und Gabe gelten mit Gabe.
Hohn mit Hohn soll der Held erwidern,
Und Losheit mit Lüge.
Kommentar:
Odin betont hier Gegenseitigkeit: Freundschaft lebt von Treue und Ausgleich. Wer gibt, soll auch empfangen, wer Gutes erfährt, soll es erwidern. Doch auch im Konflikt ist Gegenseitigkeit wichtig: Spott darf mit Spott, Lüge mit Lüge beantwortet werden. Es geht nicht um blinde Güte, sondern um Gerechtigkeit und Balance. In moderner Sicht: Beziehungen brauchen Gegenseitigkeit. Freundschaft blüht durch Vertrauen und Austausch, Feindschaft wird durch klare Grenzen reguliert. Klugheit liegt darin, aufrichtig mit Freunden und standhaft mit Feinden zu sein – beides zeigt Stärke und Selbstachtung.
Vers 42
Der Freund soll dem Freunde Freundschaft bewähren,
Ihm selbst und seinen Freunden.
Aber des Feindes Freunde soll niemand
Sich gewogen erweisen.
Kommentar:
Freundschaft erstreckt sich nicht nur auf den Freund selbst, sondern auch auf sein Umfeld. Wer einen Freund hat, unterstützt auch dessen Freunde – dadurch wird Bindung gestärkt. Doch die Freunde des Feindes sind nicht zu umarmen, denn dadurch verwischt man Grenzen. Odin zeigt, dass Loyalität Klarheit braucht: Freundschaft erfordert Haltung. In moderner Sicht: Wer einen Menschen unterstützt, zeigt das auch, indem er dessen Umfeld respektiert. Doch Nähe zu den Gegnern eines Freundes kann Vertrauen zerstören. Klug ist, Verbindungen mit Bedacht zu pflegen und Loyalität zu zeigen.
Vers 43
Weißt du den Freund, dem du wohl vertraust
Und erhoffst du Holdes von ihm,
So tausche Gesinnung und Geschenke mit ihm,
Und suche manchmal sein Haus heim.
Kommentar:
Wenn du einem Menschen vertraust, teile mit ihm nicht nur Geschenke, sondern auch Gedanken und Gefühle. Freundschaft entsteht durch Austausch und gemeinsame Zeit. Odin betont, dass man Freunde regelmäßig besuchen und pflegen soll – nicht nur durch materielle Gaben, sondern durch Nähe. In moderner Sicht: Beziehungen leben von Aufmerksamkeit und Präsenz. Freundschaft braucht Pflege, sonst verkümmert sie. Zeige Dankbarkeit, sei präsent, teile dich mit. Ein offenes Herz, ein Geschenk oder ein Besuch sind Zeichen, die Verbundenheit stärken. Freundschaft wächst, wenn sie aktiv gelebt wird.
Vers 44
Weißt du den Mann, dem du wenig vertraust
Und erhoffst doch Holdes von ihm,
Sei fromm in Worten und falsch im Denken
Und zahle Losheit mit Lüge.
Kommentar:
Mit Menschen, denen man nicht vertraut, soll man vorsichtig umgehen. Worte können freundlich sein, doch das Herz bleibt wachsam. Odin lehrt hier Schutz durch Distanz: Man kann höflich auftreten, ohne sich innerlich zu öffnen. Wenn ein Mensch trügerisch handelt, darf man selbst zur List greifen. In moderner Sicht: Vertrauen ist wertvoll und darf nicht leichtfertig verschenkt werden. Höflichkeit schützt, aber Nähe soll man nur schenken, wo echte Sicherheit besteht. Ehrlichkeit ist eine Tugend, doch Selbstschutz darf Vorrang haben, wenn man Gefahr spürt. Klugheit bedeutet Abgrenzung.
Vers 45
Weißt du dir wen, dem du wenig vertraust,
Weil dich sein Sinn verdächtig dünkt,
Den magst du anlachen, und an dich halten:
Die Vergeltung gleiche der Gabe.
Kommentar:
Wenn jemand verdächtig wirkt, ist Vorsicht geboten. Ein Lächeln kann Diplomatie sein, kein Ausdruck von Vertrauen. Odin mahnt, dass man solchen Menschen mit derselben Zurückhaltung begegnen soll, die sie einem selbst entgegenbringen. Vergeltung soll der Gabe entsprechen: nicht mehr, nicht weniger. In moderner Sicht: Beziehungen, in denen kein echtes Vertrauen herrscht, sollten distanziert und pragmatisch behandelt werden. Höflichkeit wahrt die Fassade, doch Nähe darf man nicht erzwingen. Die Lehre: Bewahre dein Herz vor denen, die dir nicht wohlgesinnt sind. Freundschaft braucht Ehrlichkeit, nicht Misstrauen.
Vers 46
Jung war ich einst, da ging ich einsam
Verlassne Wege wandern.
Doch fühlt ich mich reich, wenn ich andere fand:
Der Mann ist des Mannes Lust.
Kommentar:
Odin erinnert an die Freude menschlicher Begegnung. Als er jung und einsam wanderte, war jeder Mensch, den er traf, ein Schatz. Gemeinschaft ist ein tiefer Quell des Glücks. Der Vers lehrt, dass Menschen füreinander geschaffen sind. Einsamkeit kann belasten, doch die Begegnung mit anderen gibt Kraft, Freude und Sinn. In moderner Sicht: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Beziehungen, Gespräche und Austausch machen reich, unabhängig vom Besitz. Freude entsteht nicht im Alleinsein, sondern im gemeinsamen Erleben. Jeder Mensch ist des anderen „Lust“ – Freude und Halt.
Vers 47
Der milde, mutige Mann ist am glücklichsten,
Den selten Sorge beschleicht;
Doch der Verzagte zittert vor allem
Und kargt verkümmernd mit Gaben.
Kommentar:
Glück liegt in Großzügigkeit und Mut. Der freigebige, heitere Mensch ist selten von Sorgen bedrückt, während der Ängstliche vor allem zittert und am Leben verkümmert. Odin zeigt, dass Angst und Geiz den Menschen schwächen, während Mut und Milde ihn stark machen. In moderner Deutung: Großzügigkeit schafft Freude, Angst zerstört sie. Wer Vertrauen ins Leben hat, lebt leichter. Wer ständig spart, sich verschließt und zurückhält, verliert innerlich. Glück wächst dort, wo man Mut hat zu geben und offen zu sein – trotz Unsicherheiten und Sorgen.
Vers 48
Mein Gewand gab ich im Walde
Moosmännern zweien.
Bekleidet dauchten sie Kämpen sich gleich,
Während Hohn den Nackten neckt.
Kommentar:
Odin erzählt, wie er im Wald zwei Bedürftigen sein Gewand gab. Damit gab er ihnen Würde und ließ sie als gleichwertige Kämpfer erscheinen. Die Botschaft: Kleidung schützt nicht nur vor Kälte, sie schenkt auch Ansehen. Nacktheit lädt zu Spott ein, Würde schützt vor Hohn. In moderner Sicht: Hilfe kann Menschen nicht nur körperlich, sondern auch seelisch stärken. Es geht um Respekt und die Wiederherstellung von Würde. Wer gibt, schenkt nicht nur Materielles, sondern Anerkennung. Kleine Taten der Großzügigkeit können andere aufrichten und ihnen Stolz zurückgeben.
Vers 49
Der Dornbusch dorrt, der im Dorfe steht,
Ihm bleibt nicht Blatt noch Borke.
So geht es dem Mann, den niemand mag:
Was soll er länger leben?
Kommentar:
Wie ein verdorrter Dornbusch, der keine Blätter mehr trägt, ist der Mensch, den niemand mag. Ohne Freundschaft und Zuneigung ist das Leben trostlos und leer. Odin zeigt, dass soziale Bindung lebensnotwendig ist. Isolation entzieht dem Menschen Kraft und Sinn. In moderner Deutung: Einsamkeit ist eine der größten Belastungen. Wer keine Verbindung zu anderen hat, verwelkt innerlich. Die Lehre: Pflege deine Beziehungen, sei freundlich und offen, damit du Teil einer Gemeinschaft bleibst. Denn Leben entfaltet sich erst durch menschliche Nähe, nicht allein durch bloßes Dasein.
Vers 50
Heißer brennt als Feuer der Bösen
Freundschaft fünf Tage lang;
Doch sicher am sechsten ist sie erstickt
Und alle Lieb erloschen.
Kommentar:
Falsche Freundschaft währt nur kurz. Die Zuneigung eines bösen Menschen brennt anfangs heiß, wie ein Feuer, doch schnell erlischt sie. Odin mahnt, dass man bei überschwänglicher Nähe Vorsicht walten lassen soll. Echtes Band zeigt sich nicht in stürmischer Begeisterung, sondern in Beständigkeit. In moderner Sicht: Beziehungen, die nur von Leidenschaft oder Nutzen geprägt sind, haben kein Fundament. Wahre Freundschaft erweist sich in der Zeit, nicht in flüchtiger Glut. Vertraue nicht auf schnelle Nähe, sondern prüfe, ob ein Herz auch am sechsten Tag treu bleibt.
Vers 51
Die Gabe muß nicht immer groß sein:
Oft erwirbt man mit wenigem Lob.
Ein halbes Brot, eine Neig im Becher
Gewann mir wohl den Gesellen.
Kommentar:
Nicht die Größe des Geschenkes zählt, sondern die Geste. Schon ein Stück Brot oder ein Schluck aus dem Becher kann ein Band zwischen Menschen schaffen. Odin zeigt, dass Freundschaft und Vertrauen oft durch kleine Zeichen der Aufmerksamkeit entstehen. In moderner Sicht: Es geht nicht um materiellen Wert, sondern um Wertschätzung und das Teilen. Wer von Herzen gibt, selbst wenn es wenig ist, schenkt dennoch viel. Kleine Gesten können Türen öffnen und Vertrauen begründen. Großzügigkeit misst sich nicht an Reichtum, sondern an Bereitschaft, mit anderen zu teilen.
Vers 52
Wie Körner im Sand klein an Verstand
Ist kleiner Seelen Sinn.
Ungleich ist der Menschen Einsicht,
Zwei Hälften hat die Welt.
Kommentar:
Menschen unterscheiden sich in ihrem Verstand so sehr wie Sandkörner am Strand. Die Welt ist geteilt zwischen Klugheit und Torheit. Odin macht klar, dass man nicht von jedem denselben Sinn erwarten kann. Einsicht ist ungleich verteilt, und darin liegt die Vielfalt – aber auch die Gefahr. In moderner Sicht: Wir begegnen Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Weisheiten. Klugheit ist kein Maßstab für Wert, doch sie beeinflusst das Miteinander. Die Lehre: Sei geduldig mit Unwissenden, aber hüte dich vor ihrer Torheit. Die Welt bleibt immer geteilt in Verstand und Unverstand.
Vers 53
Der Mann muß mäßig weise sein,
Doch nicht allzuweise.
Das schönste Leben ist dem beschieden,
Der recht weiß, was er weiß.
Kommentar:
Weisheit ist wertvoll, doch Übermaß kann belasten. Wer zu viel weiß, verstrickt sich in Grübeleien und Sorgen. Das schönste Leben hat, wer ein gesundes Maß an Wissen besitzt – genug, um klug zu handeln, aber nicht so viel, dass es die Freude am Leben raubt. Odin mahnt zur Balance: Klugheit ja, Überklugheit nein. In moderner Sicht: Man soll lernen, aber auch genießen. Lebenskunst liegt darin, nicht alles wissen oder kontrollieren zu wollen. Weisheit dient dem Leben, nicht dem Leiden. Das rechte Maß macht glücklich.
Vers 54
Der Mann muß mäßig weise sein,
Doch nicht allzuweise.
Des Weisen Herz erheitert sich selten
Wenn er zu weise wird.
Kommentar:
Odin betont erneut, dass Übermaß an Weisheit das Herz beschwert. Der Weise, der zu tief in alles Einsicht hat, findet selten Freude. Wissen kann belasten, wenn es nicht mit Leichtigkeit verbunden ist. In moderner Sicht: Intellekt allein schafft kein Glück. Lebensfreude wächst aus der Balance zwischen Verstand und Herz. Wer nur analysiert, verliert oft den Blick für das Schöne. Weisheit soll bereichern, nicht lähmen. Die Lehre: Sei klug, aber verliere nicht die Fähigkeit zu lachen, zu genießen und mit Leichtigkeit durchs Leben zu gehen.
Vers 55
Der Mann muß mäßig weise sein,
Doch nicht allzuweise.
Sein Schicksal kenne keiner voraus,
So bleibt der Sinn ihm sorgenfrei.
Kommentar:
Niemand soll sein Schicksal im Voraus kennen. Zu viel Wissen über die Zukunft nimmt dem Leben die Freude und macht den Sinn schwer. Odin mahnt, dass ein gewisses Maß an Unwissenheit befreiend ist. Wer nicht weiß, wann er stirbt oder welches Leid kommt, lebt sorgenfreier. In moderner Sicht: Ungewissheit ist Teil des Lebens und manchmal ein Geschenk. Wenn wir alles wüssten, fehlte Hoffnung, Überraschung und Freude. Weise ist, wer im Jetzt lebt, statt ständig an die Zukunft zu denken. Balance bedeutet, Vertrauen ins Leben zu haben.
Vers 56
Brand entbrennt an Brand, bis er zu Ende brennt,
Flamme belebt sich an Flamme.
Der Mann wird durch den Mann der Rede mächtig
Im Verborgnen bleibt er blöde.
Kommentar:
Wie Feuer sich am Feuer entzündet, so wächst Weisheit durch Austausch. Der Mensch wird durch Gespräche und Begegnungen reich an Verstand, während er in Einsamkeit verkümmert. Odin zeigt, dass Wissen nicht im Verborgenen blüht, sondern im Miteinander. In moderner Sicht: Austausch, Diskussion und Gemeinschaft lassen Ideen reifen. Wer nur schweigt oder sich isoliert, bleibt in seiner Entwicklung begrenzt. Die Lehre: Suche das Gespräch, teile deine Gedanken, und lass dich von anderen inspirieren. Wie Flammen einander nähren, so befruchtet Dialog den Verstand und das Herz.
Vers 57
Früh aufstehen soll, wer den andern sinnt
Um Haupt und Habe zu bringen:
Dem schlummernden Wolf glückt selten ein Fang,
Noch schlafendem Mann ein Sieg.
Kommentar:
Der frühe Vogel fängt den Wurm – oder im Bild Odins: Der wache Wolf erbeutet, der schlafende nicht. Wer handeln will, muss wach und bereit sein. Wer verschläft, verliert Chancen. Odin mahnt zur Wachsamkeit und Tatkraft. In moderner Sicht: Erfolg verlangt Initiative und Einsatzbereitschaft. Faulheit und Trägheit bringen selten Glück. Der Tag gehört denen, die ihn nutzen. Ob im Beruf, im Lernen oder im Kampf – wer früh und entschlossen beginnt, hat die besten Chancen. Disziplin und Fleiß sind Schlüssel zur Stärke und Freiheit.
Vers 58
Früh aufstehen soll, wer wenig Arbeiter hat,
Und schaun nach seinem Werke.
Manches versäumt, wer den Morgen verschläft:
Dem Raschen gehört der Reichtum halb.
Kommentar:
Auch hier betont Odin die Tugend des frühen Aufstehens, besonders für den, der wenig Unterstützung hat. Wer selbst Hand anlegen muss, darf keine Zeit verschwenden. Der Morgen ist wertvoll, wer ihn verschläft, verliert Chancen. In moderner Sicht: Selbstständigkeit verlangt Disziplin. Wer wenig Hilfe hat, muss doppelt wachsam sein. Erfolg gehört nicht den Faulen, sondern den Tatkräftigen. Rasches Handeln bringt Vorsprung, während Zögern Verlust bedeutet. Die Lehre: Nutze den Tag bewusst, denn Zeit ist ein Gut, das nicht zurückkehrt. Frühzeitige Initiative stärkt Unabhängigkeit und Erfolg.
Vers 59
Dürrer Scheite und deckender Schindeln
Weiß der Mann das Maß,
Und all des Holzes, womit er ausreicht
Während der Jahreswende.
Kommentar:
Weisheit zeigt sich auch in Planung und Vorsorge. Odin hebt hervor, dass man wissen soll, wie viel Holz man braucht, um durch den Winter zu kommen. Maß und Ordnung sind Zeichen von Klugheit. In moderner Sicht: Voraussicht und Organisation sichern Stabilität. Wer sein Leben plant, vermeidet Not. Es geht nicht um Geiz, sondern um bewusste Vorbereitung. Ressourcen zu kennen und zu nutzen bedeutet Stärke. Die Lehre: Wer rechtzeitig vorsorgt, ist frei von Angst. Planung, Maß und Übersicht sind stille, aber mächtige Tugenden des klugen Menschen.
Vers 60
Rein und gesättigt reit zur Versammlung
Um schönes Kleid unbekümmert.
Der Schuh und der Hosen schäme sich niemand,
Noch des Hengstes, hat er nicht guten.
Kommentar:
Odin rät, rein und gesättigt zur Versammlung zu reiten. Auf äußeren Glanz, schöne Kleider oder prunkvolle Pferde kommt es nicht an. Was zählt, ist innere Klarheit, Würde und Zufriedenheit. Niemand soll sich für einfache Kleidung oder schlichtes Aussehen schämen. In moderner Sicht: Authentizität und Haltung sind wichtiger als Statussymbole. Wer klar im Geist und satt im Bauch ist, tritt mit Ruhe und Würde auf. Echte Stärke zeigt sich nicht im äußeren Schein, sondern in innerem Selbstbewusstsein. Die Lehre: Sei echt, nicht blendend.
Vers 61
Zu sagen und zu fragen verstehe jeder,
Der nicht dumm will dünken.
Nur einem vertrau er, nicht auch dem andern,
Wissens dreie, so weiß es die Welt.
Kommentar:
Wer nicht töricht erscheinen will, soll sprechen und fragen können. Doch Vertrauen ist mit Bedacht zu wählen – nur einem soll man sich öffnen, nicht vielen. Wissen, das drei Menschen kennen, wird bald die ganze Welt erfahren. Odin mahnt zur Vorsicht im Umgang mit Geheimnissen. In moderner Sicht: Kommunikation ist wichtig, aber nicht jedes Ohr ist vertrauenswürdig. Offene Fragen zeigen Klugheit, unbedachtes Plaudern zeigt Naivität. Die Lehre: Rede klug, frage mutig, aber sei zurückhaltend mit vertraulichen Dingen. Wahre Klugheit vereint Offenheit mit gezielter Verschwiegenheit.
Vers 62
Verlangend lechzt, eh er landen mag
Der Aar auf der ewigen See.
So geht es dem Mann in der Menge des Volks,
Der keinen Anwalt antrifft.
Kommentar:
Wie der Adler über dem Meer vergeblich nach Land sucht, so verloren fühlt sich der Mensch in einer Menge, wenn er keinen Beistand hat. Ohne Freunde oder Verbündete ist man wie ein Vogel ohne Rastplatz. Odin macht deutlich, dass jeder Unterstützung braucht. In moderner Sicht: Niemand ist wirklich stark allein. Netzwerke, Freundschaften und Menschen, die für uns eintreten, geben Sicherheit und Halt. Wer allein steht, geht verloren in der Masse. Die Lehre: Pflege Beziehungen, suche Vertraute – wahre Stärke erwächst nicht aus Isolation, sondern aus Gemeinschaft.
Vers 63
Der Macht muß der Mann, wenn er klug ist,
Sich mit Bedacht bedienen,
Denn bald wird er finden, wenn er sich Feinde macht,
Daß dem Starken ein Stärkerer lebt.
Kommentar:
Macht soll mit Bedacht genutzt werden. Wer sie missbraucht, schafft sich Feinde, und immer gibt es jemanden, der stärker ist. Odin warnt vor Hochmut und Rücksichtslosigkeit. In moderner Deutung: Macht ist Verantwortung. Sie soll zum Schutz und Aufbau genutzt werden, nicht zum Niederdrücken anderer. Wer rücksichtslos herrscht, ruft Widerstand hervor. Klugheit besteht darin, Grenzen zu kennen und sich nicht unantastbar zu fühlen. Die Lehre: Stärke ist vergänglich, doch Respekt, der durch gerechtes Handeln erworben wird, hält länger als jede Macht. Maß und Demut bewahren Frieden.
Vers 64
Umsichtig und verschwiegen sei ein jeder
Und im Zutraun zaghaft.
Worte, die andern anvertraut wurden,
Büßt man oft bitter.
Kommentar:
Umsicht und Verschwiegenheit sind Tugenden. Wer zu viel Vertrauen schenkt, büßt oft dafür, wenn seine Worte weitergetragen werden. Odin mahnt zur Vorsicht im Umgang mit Geheimnissen: Worte, einmal gesprochen, sind nicht zurückzunehmen. In moderner Sicht: Vertraulichkeit ist wertvoll, doch man muss genau prüfen, wem man sein Inneres anvertraut. Vorsicht schützt vor Verrat, Schweigen vor Missbrauch. Offenheit ist wichtig, aber nicht grenzenlos. Die Lehre: Balance finden zwischen Vertrauen und Schutz. Klug ist, wer mit Bedacht wählt, wem er sein Herz öffnet, und wann Schweigen klüger ist.
Vers 65
An manchen Ort kam ich allzufrüh;
Allzuspät an andern.
Bald war getrunken das Bier, bald zu frisch;
Unlieber kommt immer zur Unzeit.
Kommentar:
Zu früh oder zu spät zu erscheinen, ist unglücklich – wer unpünktlich ist, stört das Zusammensein. Odin hebt hervor, dass der rechte Zeitpunkt entscheidend ist: Mal war das Bier schon ausgetrunken, mal war der Besuch unerwünscht. In moderner Sicht: Taktgefühl ist wichtig. Gesellschaftliches Geschick bedeutet, den richtigen Moment zu erkennen. Beziehungen leiden, wenn man ständig „zur falschen Zeit“ kommt – sei es wörtlich oder im übertragenen Sinn. Die Lehre: Achte auf Timing und Respekt. Der, der zur rechten Zeit erscheint, zeigt Rücksicht, Takt und Verbundenheit.
Vers 66
Hier und dort hätte mir Labung gewinkt,
Wenn ich des bedurfte.
Zwei Schinken noch hingen in des Freundes Halle,
Wo ich einen schon geschmaust.
Kommentar:
Odin erinnert an die Großzügigkeit wahrer Freunde. Selbst nachdem er schon einmal empfangen und gegessen hatte, fand er in der Halle des Freundes noch reichlich Vorrat. Das Bild zeigt: Freundschaft kennt keine Berechnung. Ein wahrer Freund teilt ohne zu zählen. In moderner Sicht: Echte Verbundenheit ist großzügig. Hilfe, Gastfreundschaft und Zuwendung werden nicht aufgerechnet. Freunde sind Quellen, aus denen man mehrfach schöpfen darf. Die Lehre: Sei großzügig mit denen, die dir wichtig sind, und erkenne die Großzügigkeit anderer dankbar an. Freundschaft wächst durch wiederholtes Geben.
Vers 67
Feuer ist das Beste dem Erdgebornen,
Und der Sonne Schein;
Nur sei Gesundheit ihm nicht versagt
Und lasterlos zu leben.
Kommentar:
Die größten Güter des Lebens sind einfach: Feuer, Sonnenschein, Gesundheit und ein lasterfreies Leben. Odin betont, dass diese Grundlagen wertvoller sind als Reichtum. In moderner Sicht: Lebensqualität liegt in Einfachheit und im Alltäglichen. Wärme, Licht, körperliche Gesundheit und ein reines Gewissen sind Quellen von Glück. Luxus ist vergänglich, doch diese Dinge tragen dauerhaft. Die Lehre: Sei dankbar für das, was selbstverständlich erscheint, denn es ist das Wertvollste. Ein reines Herz und ein gesunder Körper schenken mehr Freude als jede noch so große Gabe.
Vers 68
Ganz unglücklich ist niemand, ist er gleich nicht gesund:
Einer hat an Söhnen Segen,
Einer an Freunden, einer an vielem Gut,
Einer an trefflichem Tun.
Kommentar:
Niemand ist völlig unglücklich. Auch wer krank ist, kann in anderen Bereichen gesegnet sein: durch Kinder, Freunde, Besitz oder Taten. Odin zeigt, dass das Leben vielschichtig ist. Unglück in einem Bereich bedeutet nicht, dass alles verloren ist. In moderner Sicht: Jeder Mensch trägt Quellen der Freude in sich, auch in Leid. Dankbarkeit und Perspektive helfen, das Gute zu erkennen, selbst wenn manches fehlt. Die Lehre: Suche nach dem, was dir geblieben ist, nicht nur nach dem, was fehlt. Glück liegt oft im Verborgenen.
Vers 69
Leben ist beßer, auch Leben in Armut:
Der Lebende kommt noch zur Ruh.
Feuer sah ich des Reichen Reichtümer fressen,
Und der Tod stand vor der Tür.
Kommentar:
Leben ist immer besser als Tod, auch wenn es arm und schwer ist. Der Lebende hat Hoffnung, kann noch Ruhe und Freude finden. Odin erinnert daran, dass Reichtum vergänglich ist – Feuer kann ihn verzehren, und der Tod kann jederzeit eintreten. In moderner Sicht: Das Leben selbst ist der größte Wert. Besitz, Status und Macht sind unsicher. Dankbarkeit für das bloße Leben schenkt Stärke. Auch in Armut besteht Möglichkeit zur Freude. Die Lehre: Schätze das Leben, solange es währt – es ist das größte Geschenk.
Vers 70
Der Hinkende reite, der Handlose hüte,
Der Taube taugt noch zur Tapferkeit.
Blind sein ist beßer als verbrannt werden:
Der Tote nützt zu nichts mehr.
Kommentar:
Selbst mit Einschränkungen kann man leben, wirken und Mut beweisen. Der Hinkende kann reiten, der Handlose bewachen, der Taube kämpfen. Odin macht deutlich: Einschränkungen nehmen nicht die Würde, solange Leben bleibt. Nur der Tod macht nutzlos. In moderner Sicht: Jeder Mensch trägt Fähigkeiten, auch wenn er nicht vollkommen gesund ist. Wert entsteht durch Beitrag, nicht durch Perfektion. Die Lehre: Unterschätze nie die Kraft eines Menschen, selbst wenn er begrenzt scheint. Leben bedeutet Möglichkeit – Tod bedeutet Ende. Solange du lebst, kannst du wirken und Sinn stiften.
Vers 71
Ein Sohn ist beßer, ob spät geboren
Nach des Vaters Hinfahrt.
Gedenksteine stehn am Wege selten,
Wenn sie der Freund dem Freund nicht setzt.
Kommentar:
Ein Sohn ist ein Segen, auch wenn er erst nach dem Tod des Vaters geboren wird. Er trägt den Namen und das Andenken weiter. Odin betont, dass Nachruhm und Erinnerung wertvoller sind als materieller Besitz. Gedenksteine stehen nur dort, wo Menschen einander wichtig waren. In moderner Sicht: Kinder, Familie und Freundschaft sichern unser Vermächtnis. Es sind nicht Reichtümer, die bleiben, sondern Menschen, die uns erinnern. Die Lehre: Pflege deine Bindungen, denn sie bewahren deine Spuren in der Welt. Wer Liebe und Treue sät, lebt nach dem Tod weiter.
Vers 72
Zweie gehören zusammen und doch schlägt die Zunge
das Haupt.
Unter jedem Gewand erwart ich eine Faust.
Kommentar:
Zunge und Hand gehören zusammen, wie Körper und Geist. Doch die Zunge kann das Haupt verraten: Worte entlarven den Menschen. Odin mahnt, dass hinter jeder Fassade, hinter jedem Gewand, eine Faust stecken kann. Freundlichkeit kann täuschen, Worte können verschleiern. In moderner Sicht: Achte nicht nur auf das Gesagte, sondern auch auf das, was dahinter liegt. Worte können verletzen, aber auch verraten, ob jemand ehrlich oder feindlich ist. Die Lehre: Sei wachsam. Nicht jeder, der freundlich spricht, meint es gut. Vertrauen muss geprüft sein, nicht blind.
Vers 73
Der Nacht freut sich wer des Vorrats gewiß ist,
Doch herb ist die Herbstnacht.
Fünfmal wechselt oft das Wetter am Tag:
Wie viel mehr im Monat!
Kommentar:
Die Nacht ist angenehm, wenn man Vorrat hat – sonst ist sie bitter. Odin verweist auf die Unsicherheit des Lebens: Wetter und Umstände wechseln schnell, wie Herbsttage. Sicherheit liegt nicht in Hoffnung, sondern in Vorsorge. In moderner Sicht: Planung schützt vor Härten, Flexibilität vor Enttäuschung. Die Welt ist unbeständig, wer vorbereitet ist, leidet weniger. Die Lehre: Sorge für dich, plane voraus, rechne mit Wandel. Wer Vorräte an Wissen, Stärke oder Gemeinschaft hat, übersteht die „Herbstnächte“ besser. Stabilität entsteht aus Vorbereitung und Gelassenheit angesichts des Wandels.
Vers 74
Wer wenig weiß, der weiß auch nicht,
Dass einen oft der Reichtum äfft;
Einer ist reich, ein andrer arm:
Den soll niemand narren.
Kommentar:
Unwissenheit lässt den Menschen glauben, Reichtum sei Sicherheit. Odin mahnt: Wohlstand kann täuschen. Heute reich, morgen arm – Besitz ist unbeständig. Klug ist, wer erkennt, dass Reichtum keine Garantie ist. In moderner Sicht: Geld und Status können helfen, aber sie sind keine absoluten Werte. Menschlichkeit, Weisheit und Charakter sind beständiger. Die Lehre: Strebe nicht blind nach Reichtum, sondern nach innerer Stärke. Erkenne den Wert von Menschen unabhängig vom Besitz. Wer Reichtum überschätzt, wird betrogen. Weisheit liegt darin, den Menschen zu sehen, nicht nur seinen Schatz.
Vers 75
Das Vieh stirbt, die Freunde sterben,
Endlich stirbt man selbst;
Doch nimmer mag ihm der Nachruhm sterben,
Welcher sich guten gewann.
Kommentar:
Alles stirbt: Vieh, Freunde, auch wir selbst. Doch der Nachruhm überlebt, wenn wir uns Ehre und ein gutes Andenken schaffen. Odin erinnert daran, dass das größte Erbe nicht Besitz ist, sondern wie man gelebt hat. In moderner Sicht: Taten, Charakter und Werte bleiben länger als Körper oder Eigentum. Ein guter Name überdauert Generationen. Die Lehre: Lebe so, dass man sich gern an dich erinnert. Freundlichkeit, Mut und Aufrichtigkeit sind Geschenke, die den Tod überdauern. Alles vergeht, aber ein ehrbares Vermächtnis bleibt lebendig im Herzen anderer.
Vers 76
Das Vieh stirbt, die Freunde sterben,
Endlich stirbt man selbst;
Doch eines weiß ich, dass immer bleibt:
Das Urteil über den Toten.
Kommentar:
Auch hier wiederholt Odin die Mahnung: Alles stirbt, doch das Urteil über den Toten bleibt. Menschen werden an ihrem Leben gemessen, nicht an ihrem Tod. Der Nachruhm ist ein bleibendes Erbe. In moderner Sicht: Dein Ruf ist stärker als dein Besitz. Wie andere dich erinnern, hängt von deinen Entscheidungen ab. Die Lehre: Achte auf dein Handeln, denn es ist das, was bleibt. Materielles vergeht, aber deine Haltung, dein Mut, deine Gerechtigkeit werden in den Worten und Gedanken anderer weitergetragen. Lebe so, dass dein Andenken ehrenvoll ist.
Vers 77
Volle Speicher sah ich bei Fettlings Sprossen,
Die heuer am Hungertuch nagen:
Überfluss währt einen Augenblick,
Dann flieht er, der falscheste Freund.
Kommentar:
Überfluss ist vergänglich. Odin beschreibt, wie volle Speicher schnell leer werden können – Reichtum ist ein falscher Freund, der heute lacht und morgen verschwindet. Die Mahnung: Verlasse dich nicht auf Besitz, er ist unzuverlässig. In moderner Sicht: Finanzielle Sicherheit ist wertvoll, aber nicht beständig. Wirtschaft, Gesundheit, Schicksal – alles kann sich ändern. Die Lehre: Baue dein Glück nicht auf Besitz, sondern auf innere Stärke und Gemeinschaft. Reichtum ist ein Diener, kein Herr. Wer ihn als festen Halt betrachtet, wird enttäuscht. Sicherheit entsteht durch Werte, nicht Vorräte.
Vers 78
Der alberne Geck, gewinnt er etwa
Gut oder Gunst der Frauen,
Gleich schwillt ihm der Kamm, doch die Klugheit nicht;
Nur im Hochmut nimmt er zu.
Kommentar:
Ein Narr wird arrogant, wenn er Wohlstand oder die Gunst einer Frau erlangt. Doch seine innere Torheit bleibt, nur sein Hochmut wächst. Odin warnt: Äußere Erfolge machen den Dummen nicht klüger. In moderner Sicht: Statussymbole, Anerkennung oder Liebe können den Charakter nicht ersetzen. Wer nicht weise ist, bleibt es auch mit Macht oder Anerkennung. Die Lehre: Echte Stärke wächst von innen, nicht durch äußere Zuwendung. Hochmut ohne Klugheit führt zum Sturz. Freude und Gunst sind Geschenke, aber sie sollten Demut lehren, nicht Arroganz fördern.
Vers 79
Was wirst du finden befragst du die Runen,
Die hochheiligen,
Welche Götter schufen, Hohepriester schrieben?
Dass nichts besser sei als Schweigen.
Kommentar:
Odin spricht von den Runen – den heiligen Zeichen der Götter. Wer nach ihrer Weisheit fragt, erfährt: Schweigen ist oft das Beste. Denn nicht alles Wissen darf leichtfertig geteilt oder gesucht werden. Schweigen bewahrt Macht und schützt vor Torheit. In moderner Sicht: Nicht jede Wahrheit muss ausgesprochen werden. Manchmal liegt Weisheit im Schweigen, im Zuhören, im Innehalten. Worte können Macht haben, aber Schweigen kann mächtiger sein. Die Lehre: Suche Wissen mit Respekt, und wisse, wann es besser ist zu schweigen. Schweigen ist eine Form von Stärke.
Vers 80
Den Tag lob abends, die Frau im Tode,
Das Schwert, wenn's versucht ist,
Die Braut nach der Hochzeit, eh es bricht, das Eis,
Das Ael, wenn's getrunken ist.
Kommentar:
Urteile niemals zu früh. Den Tag kann man erst am Abend beurteilen, das Schwert erst nach dem Kampf, das Bier erst nach dem Trinken. Auch eine Frau erkennt man erst nach dem Leben, die Braut erst nach der Ehe. Odin mahnt: Erfahrung bringt Klarheit, nicht Erwartungen. In moderner Sicht: Prüfe die Dinge in der Zeit. Erste Eindrücke täuschen, wahre Qualität zeigt sich erst in der Bewährung. Die Lehre: Geduld und Beobachtung sind Weisheit. Urteile nicht voreilig – bewerte Dinge erst, wenn sie sich gezeigt haben.
Liebesratschläge und Odins Erlebnisse
Vers 81
Im Sturm fällt den Baum, stich bei Fahrwind in See,
Mit der Maid spiel im Dunkeln: manch Auge hat der Tag.
Das Schiff ist zum Segeln, der Schild zum Decken gut,
Die Klinge zum Hiebe, zum Küssen das Mädchen.
Kommentar:
Odin zeigt hier den praktischen Sinn der Dinge: Der Baum fällt im Sturm, das Schiff segelt mit Wind, der Schild schützt, das Schwert schlägt, und Mädchenküsse gehören ins Verborgene. Die Botschaft: Nutze Dinge gemäß ihrem Zweck und sei dir bewusst, wann und wie sie am besten wirken. In moderner Sicht: Alles hat seinen Platz und seine Zeit. Klug ist, wer Mittel richtig einsetzt und nicht gegen ihre Natur handelt. Die Lehre: Erkenne Zweck und Kontext, dann findest du Sicherheit und Freude. Weisheit liegt in passendem Handeln.
Vers 82
Trink Ael am Feuer, auf Eis lauf Schrittschuh,
Kauf mager das Roß, und rostig das Schwert,
Zieh den Hengst daheim, den Hund im Vorwerk.
Kommentar:
Hier rät Odin zu Vorsicht und Bedacht im Alltag: Trinke Ael im Warmen, gleite auf Eis mit Schrittschuhen, kaufe Pferde und Schwerter nicht nach äußerem Schein, sondern nach dem, was zählt. Züchte Tiere dort, wo sie ihre Aufgabe am besten erfüllen. Die Botschaft: Prüfe Dinge im richtigen Umfeld und setze sie dort ein, wo sie nützlich sind. In moderner Sicht: Qualität zeigt sich in Praxis, nicht im Glanz. Klug ist, wer hinter die Oberfläche blickt und den wahren Wert erkennt. Die Lehre: Umsicht schützt vor Täuschung.
Vers 83
Mädchenreden vertraue kein Mann,
Noch der Weiber Worten.
Auf geschwungnem Rad geschaffen ward ihr Herz,
Trug in der Brust verborgen.
Kommentar:
Odin mahnt, Frauenworten nicht blind zu vertrauen. Er beschreibt ihr Herz als wechselhaft, wie ein Rad, das sich dreht. Dieser Vers spiegelt das alte Misstrauen gegenüber weiblicher List wider, das in der Gesellschaft jener Zeit stark war. In moderner Deutung: Man sollte generell vorsichtig sein mit Worten, die schmeichelhaft klingen, aber verborgen anderes meinen. Nicht nur Frauen, sondern Menschen im Allgemeinen können doppelgesichtig sein. Die Lehre: Vertrauen ist wertvoll, aber nicht selbstverständlich. Prüfe Worte an den Taten, nicht an der Zunge. Echtheit zeigt sich im Handeln.
Vers 84
Krachendem Bogen, knisternder Flamme,
Schnappendem Wolf, geschwätziger Krähe,
Grunzender Bache, wurzellosem Baum,
Schwellender Meerflut, sprudelndem Kessel.
Kommentar:
Odin zählt hier Dinge auf, die gefährlich und unzuverlässig sind: gespannter Bogen, loderndes Feuer, hungriger Wolf, plappernde Krähe und mehr. Sie alle sind Zeichen von Unsicherheit und Risiko. Die Botschaft: Sei wachsam gegenüber Dingen, die schnell außer Kontrolle geraten können. In moderner Sicht: Gefahren liegen oft im Alltäglichen, man muss sie erkennen, um sicher zu handeln. Vorsicht und Umsicht sind Schlüssel zum Überleben. Die Lehre: Unterschätze nie, was plötzlich umschlagen kann. Wachsamkeit schützt dich, Leichtsinn gefährdet dich. Alles, was unberechenbar ist, erfordert Respekt und Distanz.
Vers 85
Fliegendem Pfeil, fallender See,
Einnächtgem Eis, geringelter Natter,
Bettreden der Braut, brüchigem Schwert,
Kosendem Bären und Königskinde.
Kommentar:
Hier erweitert Odin die Liste der Dinge, denen man nicht blind vertrauen darf: fallende See, dünnes Eis, Schlangen, Versprechen im Ehebett, brüchige Waffen, wilde Tiere und unberechenbare Herrscherkinder. Sie alle symbolisieren Unsicherheit und versteckte Gefahr. Die Botschaft: Nicht alles, was sicher scheint, ist es auch. In moderner Sicht: Vorsicht vor trügerischen Situationen, verführerischen Worten oder instabilen Grundlagen. Klugheit liegt darin, zu prüfen und nicht leichtgläubig zu sein. Die Lehre: Vertrauen ist wertvoll, doch nur dort, wo Verlässlichkeit bewiesen ist. Alles andere verlangt Vorsicht.
Vers 86
Siechem Kalb, gefälligem Knecht,
Wahrsagendem Weib, auf der Walstatt Besiegtem,
Heiterm Himmel, lachendem Herrn,
Hinkendem Köter und Trauerkleidern.
Kommentar:
Odin nennt weitere Dinge, die trügerisch sind: das schwache Tier, der allzu willige Diener, Wahrsagerinnen, die Unzuverlässigkeit des Himmels, oder Menschen in Trauer. Sie zeigen, dass äußere Erscheinung täuschen kann. Was nützlich scheint, ist nicht immer vertrauenswürdig. In moderner Sicht: Sei vorsichtig mit Dingen oder Menschen, die leicht verfügbar oder zu glatt wirken. Häufig steckt darin Instabilität oder Gefahr. Die Lehre: Hinterfrage, prüfe, traue nicht sofort. Vorsicht schützt vor Täuschung. Klug ist, wer nicht nur das Offensichtliche sieht, sondern auch die verborgene Schwäche oder den versteckten Sinn.
Vers 87
Dem Mörder deines Bruders, wie breit wär die Straße,
Halbverbranntem Haus, windschnellem Hengst,
(Bricht ihm ein Bein, so ist er unbrauchbar):
Dem allen soll niemand voreilig trauen.
Kommentar:
Odin mahnt, selbst dort Vorsicht walten zu lassen, wo die Dinge harmlos erscheinen: der Mörder, das halbverbrannte Haus, ein schnelles Pferd, das leicht verletzlich ist. Die Botschaft: Alles, was gebrochen, gefährlich oder unzuverlässig ist, darf nicht zu sehr vertraut werden. In moderner Sicht: Vorsicht gilt besonders im Umgang mit Menschen, die Schuld tragen oder zweifelhafte Taten verübt haben. Auch scheinbar sichere Dinge können schnell gefährlich werden. Die Lehre: Sei achtsam, prüfe und vertraue nicht vorschnell. Sicherheit entsteht durch Wachsamkeit, nicht durch Naivität oder Gutgläubigkeit.
Vers 88
Frühbesätem Feld trau nicht zu viel,
Noch altklugem Kind.
Wetter braucht die Saat und Witz das Kind:
Das sind zwei zweiflige Dinge.
Kommentar:
Odin nennt zwei Dinge, denen man nicht zu sehr vertrauen sollte: frisch gesätem Feld und altklugen Kindern. Saat braucht Zeit, Kinder brauchen Reife. Wer zu früh zu viel erwartet, wird enttäuscht. In moderner Sicht: Geduld ist eine Tugend. Wachstum braucht Zeit, Reifung braucht Raum. Es ist töricht, sofortige Ergebnisse zu verlangen. Die Lehre: Vertraue dem Prozess, nicht dem schnellen Schein. Reife, Weisheit und Erfolg entstehen langsam und brauchen Pflege. Klug ist, wer Geduld übt und nicht voreilig vertraut, wo Zeit und Entwicklung notwendig sind.
Vers 89
Die Liebe der Frau, die falschen Sinn hegt,
Gleicht unbeschlagnem Ross auf schlüpfrigem Eis,
Mutwillig, zweijährig, und übel gezähmt;
Oder steuerlosem Schiff auf stürmender Flut,
Der Gemsjagd des Lahmen auf glatter Bergwand.
Kommentar:
Odin vergleicht die Liebe einer untreuen Frau mit gefährlichen und unzuverlässigen Bildern: ein ungebändigtes Pferd, ein steuerloses Schiff, eine Jagd, die unmöglich ist. Die Botschaft: Falsche Liebe bringt Gefahr und Schmerz, sie ist unberechenbar und zerstörerisch. In moderner Sicht: Beziehungen, die nicht auf Aufrichtigkeit basieren, sind wie riskante Unternehmungen ohne Führung. Leidenschaft ohne Treue ist instabil. Die Lehre: Wahre Liebe zeigt sich in Beständigkeit und Verlässlichkeit, nicht in Aufruhr und Täuschung. Vertraue nicht der Leidenschaft allein – prüfe das Herz, ob es echt ist.
Vers 90
Offen bekenn ich, der beide wohl kenne,
Der Mann ist dem Weibe wandelbar;
Wir reden am schönsten, wenn wir am schlechtesten denken
So wird die Klügste geködert.
Kommentar:
Odin gesteht offen: Männer und Frauen sind beide wandelbar. Worte klingen oft am schönsten, wenn Gedanken trügerisch sind. Selbst die Klügste lässt sich von Schmeichelei fangen. Die Botschaft: Menschen sind schwankend, Worte können täuschen. In moderner Sicht: Vertrauen in Beziehungen erfordert Vorsicht, weil Worte nicht immer die Wahrheit spiegeln. Ehrlichkeit und Tatkraft sind stärker als Sprache. Die Lehre: Sei nicht blind für schöne Worte, prüfe den Kern. Jeder Mensch kann schwach sein – selbst der Klügste. Klug ist, wer hinter Worte blickt und den Charakter prüft.
Vers 91
Schmeichelnd soll reden und Geschenke bieten
Wer des Mädchens Minne will,
Den Liebreiz loben der leuchtenden Jungfrau:
So fängt sie der Freier.
Kommentar:
Odin beschreibt hier das Werben um eine Frau: mit Schmeichelei, Geschenken und Lob ihres Liebreizes. Er macht deutlich, dass Worte und Gesten die Herzen gewinnen können. In moderner Sicht: Beziehungen entstehen nicht durch Anspruch, sondern durch Wertschätzung. Wer ehrlich lobt und Aufmerksamkeit schenkt, öffnet Türen. Doch Vorsicht: Schmeichelei allein ist leer, wenn sie nicht von echtem Respekt getragen wird. Die Lehre: Anerkennung und kleine Geschenke können Bindungen stärken – aber sie müssen aufrichtig sein. Wer Menschen nur fangen will, betrügt sich selbst.
Vers 92
Der Liebe verwundern soll sich kein Weiser
An dem andern Mann.
Oft fesselt den Klugen was den Toren nicht fängt,
Liebreizender Leib.
Kommentar:
Liebe macht keinen Halt vor Weisheit oder Torheit. Selbst die Klügsten werden von Leidenschaft gefangen, während Toren manchmal unberührt bleiben. Odin zeigt: Liebe ist eine Macht, die den Verstand übersteigt. In moderner Sicht: Gefühle sind universell, sie brechen durch alle Schranken. Kein Mensch ist so klug, dass er unberührt bleibt. Die Lehre: Verurteile niemanden, der von Liebe bewegt ist – es ist eine menschliche Erfahrung. Weisheit liegt darin, zu erkennen, dass Verstand und Herz oft unterschiedliche Wege gehen. Liebe ist stärker als reine Logik.
Vers 93
Unklugheit wundre keinen am andern,
Denn viele befällt sie.
Weise zu Tröpfen wandelt auf Erden
Der Minne Macht.
Kommentar:
Unklugheit durch Liebe ist keine Seltenheit. Viele werden töricht, wenn Leidenschaft sie überkommt. Odin erkennt die Macht der Minne, die selbst Weise in Toren verwandelt. In moderner Sicht: Liebe ist ein großes Geschenk, aber auch eine Prüfung. Sie kann Menschen zu Fehlern verleiten, die sie sonst nicht begehen würden. Die Lehre: Urteile nicht zu hart über die Torheit anderer in Liebesdingen – auch du kannst ihr erliegen. Klug ist, sich selbst und anderen Nachsicht zu gewähren. Liebe ist keine Schwäche, sondern ein Teil des Menschseins.
Vers 94
Das Gemüt weiß allein, das dem Herzen innewohnt
Und seine Neigung verschließt,
Dass ärger Übel den Edlen nicht quälen mag
Als Liebesleid.
Kommentar:
Das Herz kennt seine eigenen Geheimnisse. Niemand kann die inneren Neigungen eines anderen vollständig erkennen. Odin weist darauf hin, dass Liebesleid zu den schlimmsten Qualen gehört, die selbst Edle quälen können. In moderner Sicht: Gefühle sind oft verborgen, und man kann nie ganz sehen, was in einem anderen vorgeht. Liebeskummer ist eine universelle Erfahrung, die selbst den Stärksten trifft. Die Lehre: Habe Mitgefühl mit den Gefühlen anderer. Liebe ist ein tiefer Schmerz und zugleich eine Kraft, die zeigt, wie lebendig wir sind.
Vers 95
Selbst erfuhr ich das, als ich im Schilfe saß
Und meiner Holden harrte.
Herz und Seele war mir die süße Maid;
Gleichwohl erwarb ich sie nicht.
Kommentar:
Odin schildert eigene Erfahrung: die Sehnsucht nach einer Geliebten, die er erwartete, aber nicht gewann. Herz und Seele waren ganz bei ihr, doch sein Wunsch blieb unerfüllt. Die Botschaft: Nicht jede Liebe erfüllt sich, und selbst der Mächtigste kann Enttäuschung erfahren. In moderner Sicht: Unerwiderte Liebe ist schmerzhaft, aber ein Teil des Lebens. Niemand ist davor gefeit. Die Lehre: Stärke zeigt sich nicht darin, dass man immer gewinnt, sondern darin, Enttäuschung zu tragen. Liebe ist ein Risiko – und darin liegt auch ihre Schönheit.
Vers 96
Ich fand Billungs Maid auf ihrem Bette,
Weiß wie die Sonne, schlafend.
Aller Fürsten Freude fühlt ich nichtig,
Sollt ich ihrer länger ledig leben.
Kommentar:
Hier beschreibt Odin die Begegnung mit Billungs Tochter: weiß und schön wie die Sonne, schlafend auf ihrem Bett. Ihre Schönheit ließ alle anderen Freuden nichtig erscheinen. Die Botschaft: Leidenschaft kann alles andere klein erscheinen lassen. In moderner Sicht: Liebe hat die Kraft, das Leben neu zu ordnen und Prioritäten zu verschieben. Doch Vorsicht: Schönheit und Verlangen dürfen nicht zur einzigen Orientierung werden. Die Lehre: Leidenschaft kann inspirieren, aber auch blenden. Weisheit liegt darin, Balance zu bewahren zwischen Verlangen und Klarheit. Schönheit allein ist vergänglich.
Vers 97
"Am Abend sollst du, Odin, kommen,
Wenn du die Maid gewinnen willst.
Nicht ziemt es sich, dass mehr als Zwei
Von solcher Sünde wissen."
Kommentar:
Die Maid stellt eine Bedingung: Odin soll am Abend kommen, und niemand außer den beiden solle von der Begegnung wissen. Sie legt Geheimhaltung und Exklusivität fest. Die Botschaft: Liebe sucht oft das Verborgene, die Intimität, das Vertrauen zwischen zwei Menschen. In moderner Sicht: Nähe entsteht durch Exklusivität und Vertrauen, aber Geheimhaltung kann auch Last und Gefahr bergen. Die Lehre: Achte auf die Bedingungen von Beziehungen. Wahre Liebe braucht Offenheit, nicht heimliche Absprachen. Wo Vertrauen fehlt oder Heimlichkeit herrscht, ist Vorsicht geboten. Intimität darf nicht Täuschung sein.
Vers 98
Ich wandte mich weg Erwidrung hoffend,
Ob noch der Neigung ungewiss;
Jedoch dacht ich, ich dürft erringen
Ihre Gunst und Liebesglück.
Kommentar:
Odin beschreibt, wie er in Unsicherheit und Hoffnung zurückging, voller Erwartung, doch auch voller Zweifel. Er hoffte, die Gunst der Maid zu gewinnen. Die Botschaft: Liebe bringt Unsicherheit mit sich – man weiß nie, ob sie erwidert wird. In moderner Sicht: Jeder, der liebt, kennt diese Mischung aus Hoffnung und Zweifel. Die Lehre: Mut bedeutet, sich der Ungewissheit zu stellen. Liebe ist keine sichere Sache, sie verlangt Vertrauen und Risiko. Weisheit liegt darin, Hoffnung zu haben, ohne blind zu sein. Balance von Herz und Verstand ist nötig.
Vers 99
So kehrt ich wieder: da war zum Kampf
Strenge Schutzwehr auferweckt,
Mit brennenden Lichtern, mit lodernden Scheitern
Mir der Weg verwehrt zur Lust.
Kommentar:
Als Odin zurückkehrte, fand er Hindernisse: brennende Scheite und Licht, die ihm den Weg verwehrten. Schutz wurde aufgebaut, um ihn fernzuhalten. Die Botschaft: Liebe ist nicht immer erreichbar; Hindernisse, sei es von Menschen oder Umständen, stellen sich in den Weg. In moderner Sicht: Nicht jede Beziehung ist möglich. Manchmal sind Grenzen, Verbote oder Widerstände unüberwindbar. Die Lehre: Erkenne, wann ein Weg versperrt ist. Manchmal liegt Weisheit darin, nicht alles zu erzwingen. Enttäuschung ist Teil des Lebens, und Hindernisse zeigen, wo Loslassen nötig ist.
Vers 100
Am folgenden Morgen fand ich mich wieder ein,
Da schlief im Saal das Gesind;
Ein Hündlein sah ich statt der herrlichen Maid
An das Bett gebunden.
Kommentar:
Am Morgen kehrte Odin erneut zurück und fand statt der Geliebten nur ein Hündchen am Bett. Er war getäuscht, seine Sehnsucht blieb unerfüllt. Die Botschaft: Selbst der Mächtige kann getäuscht werden, selbst Götter sind nicht frei von Liebesenttäuschung. In moderner Sicht: Unerfüllte Liebe, Täuschung und Spott gehören zum menschlichen Dasein. Die Lehre: Manchmal lehrt uns das Leben durch Enttäuschung Demut. Liebe ist keine Garantie, sie trägt das Risiko der Zurückweisung. Stärke bedeutet, daraus zu lernen, statt zu verbittern. Weisheit wächst durch Erfahrung, auch durch Schmerz.
Vers 101
Manche schöne Maid, wer's merken will,
Ist dem Freier falsch gesinnt.
Das erkannt ich klar, als ich das kluge Weib
Verlocken wollte zu Lüsten.
Jegliche Schmach tat die Schlaue mir an
Und wenig ward mir des Weibes.
Kommentar:
Odin erkennt, dass nicht jede schöne Frau ehrlich ist. Er erzählt von einer Begegnung, in der er ein kluges Weib verführte, doch sie war ihm falsch gesinnt und tat ihm Schmach an. Die Botschaft: Äußere Schönheit bedeutet nicht innere Lauterkeit. In moderner Sicht: Nicht alles, was strahlt, ist echt. Menschen können List und Täuschung hinter Schönheit verbergen. Die Lehre: Gehe nicht naiv auf äußeren Reiz ein. Prüfe, ob dahinter Wahrhaftigkeit liegt. Verblendung durch Begierde führt zu Enttäuschung. Klug ist, wer Herz und Verstand gleichermaßen sprechen lässt.
Vers 102
Munter sei der Hausherr und heiter bei Gästen
Nach geselliger Sitte,
Besonnen und gesprächig: so schein er verständig,
Und rate stets zum Rechten.
Kommentar:
Der Hausherr soll fröhlich und offen sein, wenn er Gäste empfängt. Freundlichkeit, Besonnenheit und Gesprächigkeit lassen ihn als verständig erscheinen. Odin mahnt, dass Geselligkeit nicht oberflächlich ist, sondern eine Tugend. Gastfreundschaft ist Ausdruck von Ehre und Charakter. In moderner Sicht: Wer Menschen willkommen heißt, schafft Vertrauen und Respekt. Freundliche Offenheit verbindet, grimmige Verschlossenheit schreckt ab. Die Lehre: Sei ein guter Gastgeber, nicht nur im Haus, sondern auch im Leben. Offenheit, Heiterkeit und das richtige Maß an Ernst machen dich zu einem geachteten Menschen.
Vers 103
Der wenig zu sagen weiß, wird ein Erztropf genannt,
Es ist des Albernen Art.
Kommentar:
Wer wenig zu sagen weiß, gilt schnell als Tor. Odin betont, dass Sprachlosigkeit den Eindruck von Dummheit verstärkt. Der Mensch zeigt Klugheit nicht nur durch Taten, sondern auch durch Worte. In moderner Sicht: Kommunikation ist ein Schlüssel zur Wirkung. Wer nichts beizutragen hat, erscheint bedeutungslos. Doch das heißt nicht, endlos zu reden – sondern etwas Wesentliches zu sagen. Die Lehre: Pflege dein Wissen, damit du etwas zu teilen hast. Schweigen kann klug sein, aber völlige Leere im Gespräch entlarvt die Torheit. Worte sind Spiegel der Weisheit.
Vers 104
Den alten Riesen besucht ich, nun bin ich zurück:
Mit Schweigen erwarb ich da wenig.
Manch Wort sprach ich zu meinem Gewinn
In Suttungs Saal.
Kommentar:
Odin erzählt von seinem Besuch bei den Riesen. Dort half Schweigen ihm wenig, doch Worte brachten Gewinn. Er deutet an, dass kluges Reden Türen öffnet, wo Schweigen nichts bewirkt. In moderner Sicht: Schweigen ist oft Stärke, aber nicht immer. Manchmal muss man sprechen, um Chancen zu ergreifen. Die Lehre: Weisheit liegt im Gleichgewicht. Schweigen schützt, Worte wirken. Wer das rechte Maß kennt, weiß, wann Reden klug ist. Kommunikation ist eine Waffe, die genutzt werden will. Schweigen allein macht nicht weise, es braucht die richtige Rede.
Vers 105
Gunnlöd schenkte mir auf goldnem Sessel
Einen Trunk des teuern Mets.
Übel vergolten hab ich gleichwohl
Ihrem heiligen Herzen,
Ihrer glühenden Gunst.
Kommentar:
Odin berichtet von Gunnlöd, die ihm auf goldenem Sitz den Met reichte – ein Geschenk des Herzens. Doch er vergalt ihre Liebe schlecht, indem er sie täuschte und ausnutzte. Die Botschaft: Selbst ein Gott kann Schuld auf sich laden. In moderner Sicht: Liebe darf nicht für eigenen Vorteil missbraucht werden. Wer Vertrauen bricht, verletzt tief. Die Lehre: Handle aufrichtig, besonders, wenn dir jemand Liebe schenkt. Täuschung mag Gewinn bringen, doch sie zerstört Herzen. Ehre liegt nicht im Sieg durch List, sondern im respektvollen Umgang mit Vertrauen.
Vers 106
Ratamund ließ ich den Weg mir räumen
Und den Berg durchbohren;
In der Mitte schritt ich zwischen Riesensteigen
Und hielt mein Haupt der Gefahr hin.
Kommentar:
Hier beschreibt Odin seinen gefährlichen Weg durch den Berg, unterstützt von Ratamund, der den Pfad öffnete. Er wagte sich zwischen den Riesen, sein Haupt dem Risiko ausgesetzt. Die Botschaft: Mut bedeutet, Gefahren bewusst zu begegnen, um ein Ziel zu erreichen. In moderner Sicht: Jeder große Gewinn erfordert Risiko. Doch Mut ist nicht Tollkühnheit, sondern klug kalkuliertes Wagnis. Die Lehre: Wer Großes erreichen will, muss bereit sein, Gefahr auf sich zu nehmen – aber mit Bedacht und guter Vorbereitung. Mut und List führen zum Ziel.
Vers 107
Schlauer Verwandlungen Frucht erwarb ich,
Wenig misslingt dem Listigen.
Denn Odhrörir ist aufgestiegen
Zur weitbewohnten Erde.
Kommentar:
Durch List gelang Odin der Sieg: Er brachte den Odhrörir-Met zur Erde. Er betont, dass Schlauheit oft mehr bewirkt als rohe Gewalt. Wenig misslingt dem Listigen, weil er Wege findet, wo Stärke versagt. In moderner Sicht: Kreativität, Taktik und Verstand sind oft die wahren Schlüssel zum Erfolg. Gewalt und Stärke sind sichtbar, doch List wirkt subtil und dauerhaft. Die Lehre: Nutze deinen Geist, nicht nur deine Kraft. Weisheit liegt im Finden ungewöhnlicher Wege. Wer klug handelt, erreicht Dinge, die anderen unmöglich erscheinen.
Vers 108
Zweifel heg ich, ob ich heim wär gekehrt
Aus der Riesen Reich,
Wenn mir Gunnlöd nicht half, die herzige Maid,
Die den Arm um mich schlang.
Kommentar:
Odin zweifelt, ob er ohne Gunnlöds Hilfe je heimgekehrt wäre. Ihre Liebe, ihr Arm um ihn, rettete ihn. Die Botschaft: Selbst der Mächtigste braucht Unterstützung. Er verdankt seine Rettung einer Frau, die ihm beistand. In moderner Sicht: Niemand ist allein stark genug. Hilfe, Freundschaft und Liebe sind Kräfte, die selbst Götter brauchen. Die Lehre: Sei dankbar für die, die dir beistehen. Stärke bedeutet nicht Unabhängigkeit, sondern die Fähigkeit, Hilfe anzunehmen. Beziehungen sind keine Schwäche, sondern ein Fundament, auf dem Erfolge ruhen.
Vers 109
Die Eisriesen eilten des andern Tags
Des Hohen Rat zu hören
In des Hohen Halle.
Sie fragten nach Bölwerk ob er heimgefahren sei
Oder ob er durch Suttung fiel.
Kommentar:
Am Tag nach Odins Flucht berieten die Eisriesen über sein Schicksal. Sie fragten, ob er heimgekehrt sei oder gefallen. Dies zeigt, dass List nicht unbemerkt bleibt. Die Botschaft: Handlungen haben Konsequenzen, auch wenn man entkommt. Andere beobachten und urteilen. In moderner Sicht: Erfolg ruft Aufmerksamkeit hervor, manchmal auch Feindschaft. Wer klug handelt, muss mit Reaktionen rechnen. Die Lehre: Sei vorbereitet, dass jede Tat, ob Sieg oder List, nachhallt. Handle so, dass du die Folgen tragen kannst. Selbst kluge Täuschung bringt Fragen und Konsequenzen.
Vers 110
Den Ringeid, sagt man, hat Odin geschworen:
Wer traut noch seiner Treue?
Den Suttung beraubt er mit Ränken des Mets
Und ließ sich Gunnlöd grämen.
Kommentar:
Odin brach seinen Schwur und täuschte Gunnlöd, indem er Suttung den Met stahl. Er selbst stellt die Frage: Wer vertraut noch seiner Treue? Die Botschaft: Selbst Götter sind fehlbar, Schuld und Verrat gehören zum Dasein. In moderner Sicht: Täuschung mag kurzfristig Erfolg bringen, doch sie nagt am Vertrauen und am eigenen Ruf. Die Lehre: Ehre beruht auf Verlässlichkeit. Ein gebrochener Schwur zerstört Glaubwürdigkeit. Weisheit besteht darin, auch Macht mit Treue zu verbinden. Wer Vertrauen bricht, mag gewinnen, aber er verliert etwas Größeres: Respekt und Ehre.
Loddfáfnismál
Vers 111
Zeit ist's zu reden vom Rednerstuhl.
An dem Brunnen Urdas
Saß ich und schwieg, saß ich und dachte
Und merkte der Männer Reden.
Kommentar:
Odin beschreibt, wie er am Brunnen der Urd saß und den Worten der Männer lauschte. Schweigen, Denken und Zuhören sind hier die Quelle der Weisheit. Die Botschaft: Nicht das Reden allein macht weise, sondern das Beobachten und Reflektieren. In moderner Sicht: Wer klug sein will, sollte nicht sofort urteilen, sondern zuhören, bevor er spricht. Gedanken reifen in Stille, und im Zuhören liegt oft mehr Stärke als im Reden. Die Lehre: Schweigen, Nachdenken und Beobachtung sind die Wurzeln echter Einsicht. Worte sollten erst nach reifem Bedacht fallen.
Vers 112
Von Runen hört ich reden und vom Ritzen der Schrift
Und vernahm auch nütze Lehren.
Bei des Hohen Halle, in des Hohen Halle
Hört ich sagen so.
Kommentar:
Odin berichtet, wie er über Runen, Schrift und nützliche Lehren hörte – alles Quellen der Weisheit. In der Halle des Hohen lernte er durch das, was andere sagten. Die Botschaft: Weisheit wird überliefert, durch Symbole, Geschichten und Worte. In moderner Sicht: Bildung und Tradition sind Schätze, die wir annehmen können, wenn wir aufmerksam zuhören. Niemand wird allein klug, sondern durch das Lernen von anderen. Die Lehre: Suche Wissen aktiv, achte auf die Weisheit, die in Zeichen und Worten verborgen ist. Lernen bedeutet, empfänglich und wach zu sein.
Vers 113
Dies rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Steh nachts nicht auf, wenn die Not nicht drängt,
Du wärst denn zum Wächter geordnet.
Kommentar:
Odin warnt Loddfafnir: Steh nachts nicht ohne Not auf, außer du bist Wächter. Die Botschaft: Nachtruhe ist Schutz. Wer sie leichtfertig unterbricht, setzt sich Gefahr aus. In moderner Sicht: Es geht um Sicherheit, Selbstschutz und um die Bedeutung von Ordnung. Nacht ist die Zeit der Ruhe, aber auch der Unsicherheit. Klug ist, wer Grenzen wahrt und seine Energie schützt. Die Lehre: Respektiere Zeiten der Erholung. Wer ohne Grund Unruhe sucht, setzt sich Gefahren aus – geistig wie körperlich. Ruhe ist Teil von Weisheit.
Vers 114
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
ln der Zauberfrau Schoß schlaf du nicht,
So dass ihre Glieder dich gürten.
Kommentar:
Odin warnt Loddfafnir, sich nicht im Schoß einer Zauberfrau schlafen zu legen. Die Botschaft: Verlockungen können gefährlich sein, besonders wenn sie von Täuschung begleitet sind. Leidenschaft kann fesseln und den Verstand trüben. In moderner Sicht: Nicht jede Versuchung ist harmlos. Manche Beziehungen sind giftig, weil sie Verstand und Freiheit rauben. Die Lehre: Prüfe, wem du dich hingibst. Liebe und Nähe sollen bereichern, nicht zerstören. Leidenschaft ohne Klarheit führt in Abhängigkeit. Weisheit besteht darin, Herz und Verstand gleichermaßen einzubeziehen, wenn du dich jemandem öffnest.
Vers 115
Sie betört dich so, du entsinnst dich nicht mehr
Des Gerichts und der Rede der Fürsten,
Gedenkst nicht des Mahls noch männlicher Freuden,
Sorgenvoll suchst du dein Lager.
Kommentar:
Die Warnung wird vertieft: Wer der falschen Frau verfällt, vergisst Urteil, Ehre, Freude und Männlichkeit. Er wird sorgenvoll und gebunden. Odin zeigt, dass Begierde, wenn sie trügerisch ist, das Leben zerstören kann. In moderner Sicht: Beziehungen können dich stärken oder schwächen. Wer sich von Täuschung oder Abhängigkeit leiten lässt, verliert Klarheit und Freiheit. Die Lehre: Hüte deine Integrität. Liebe soll dich erheben, nicht knechten. Klug ist, wer erkennt, ob Zuneigung echt ist oder nur ein Mittel, Macht über ihn zu gewinnen.
Vers 116
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Des andern Frau verführe du nicht.
Zu heimlicher Zwiesprach.
Kommentar:
Odin mahnt: Verführe nicht die Frau eines anderen. Ehebruch zerstört Vertrauen, Freundschaft und Ordnung. Die Botschaft: Achtung vor dem, was anderen gehört, ist Grundlage von Frieden und Ehre. In moderner Sicht: Verrat im Privaten zerstört nicht nur Beziehungen, sondern auch die eigene Glaubwürdigkeit. Treue ist nicht nur Pflicht, sondern Respekt. Die Lehre: Handle so, dass du Ehre bewahrst. Verlockung mag stark sein, doch der Preis ist hoch. Weisheit liegt im Respekt vor Grenzen. Ehrliche Beziehungen sind wertvoller als gestohlene Lust.
Vers 117
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Über Furten und Felsen so du zu fahren hast,
So sorge für reichliche Speise.
Kommentar:
Odin rät: Wenn du über Furten und Felsen reist, sorge für genug Nahrung. Die Botschaft: Vorsorge schützt vor Not. In gefährlichen Unternehmungen ist Vorbereitung entscheidend. In moderner Sicht: Jede Herausforderung erfordert Ressourcen – sei es Nahrung, Wissen oder innere Stärke. Wer unvorbereitet startet, scheitert schnell. Die Lehre: Sei vorausschauend und plane für deine Wege. Vorsorge ist kein Misstrauen, sondern kluge Selbstfürsorge. Stärke bedeutet, vorbereitet zu sein. In jedem Lebensbereich gilt: Sorge dafür, dass deine „Reise“ nicht von Hunger und Mangel geprägt ist.
Vers 118
Dem übeln Mann eröffne nicht
Was dir Widriges widerfährt:
Von argem Mann erntest du nimmer doch
So guten Vertrauns Vergeltung.
Kommentar:
Odin warnt: Erzähle einem bösen Menschen nicht von deinem Leid, denn er wird es missbrauchen. Schlechtes Herz erwidert Vertrauen nicht. Die Botschaft: Wähle deine Vertrauten weise. In moderner Sicht: Nicht jeder ist Freund. Manche hören nur, um deine Schwäche auszunutzen. Klug ist, wem man sich öffnet. Die Lehre: Sei offen, aber prüfe, ob jemand vertrauenswürdig ist. Nicht jeder verdient Einblick in deine Sorgen. Weisheit bedeutet, deine Verletzlichkeit nur denen zu zeigen, die sie respektieren. So schützt du dich vor Verrat und Spott.
Vers 119
Verderben stiften einem Degen sah ich
Übeln Weibes Wort:
Die giftige Zunge gab ihm den Tod,
Nicht seine Schuld.
Kommentar:
Odin erzählt, wie ein tapferer Mann durch die Worte einer üblen Frau ins Verderben stürzte. Nicht seine Schuld, sondern ihre giftige Zunge brachte den Tod. Die Botschaft: Worte sind mächtig, sie können mehr zerstören als Waffen. In moderner Sicht: Rufmord, Intrigen und falsche Worte sind tödliche Werkzeuge. Wer ihrer Macht nicht achtet, kann daran zerbrechen. Die Lehre: Hüte dich vor Menschen, die Worte als Gift gebrauchen. Und noch mehr: Nutze deine eigene Zunge nicht als Waffe gegen andere. Worte sollen aufbauen, nicht zerstören.
Vers 120
Gewannst du den Freund, dem du wohl vertraust,
So besuch ihn nicht selten,
Denn Strauchwerk grünt und hohes Gras
Auf dem Weg, den niemand wandelt.
Kommentar:
Odin rät: Besuche deine Freunde regelmäßig. Wer zu selten kommt, verliert die Nähe. Wege, die niemand geht, überwuchern mit Gras. Die Botschaft: Freundschaft lebt von Pflege. In moderner Sicht: Beziehungen brauchen Aufmerksamkeit. Ein Freund, den man nie sieht oder hört, wird bald fremd. Die Lehre: Pflege deine Verbindungen. Kleine Gesten, Besuche, Worte – sie halten Freundschaft lebendig. Wie ein Pfad durch den Wald, der begangen werden muss, so müssen Beziehungen bewusst gelebt werden. Treue und Nähe wachsen durch regelmäßigen Kontakt und aufrichtige Aufmerksamkeit.
Vers 121
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Guten Freund gewinne dir zu erfreuender Zwiesprach;
Heilspruch lerne so lange du lebst.
Kommentar:
Odin rät, sich gute Freunde zu gewinnen und stets dazuzulernen. Freundschaft ist nicht nur Freude, sondern auch Quelle von Rat und Heil. Heilspruch und Gespräch nähren Geist und Seele. In moderner Sicht: Freundschaft bedeutet Austausch, Unterstützung und gemeinsames Wachstum. Menschen, die uns aufbauen, sind ein Schatz. Die Lehre: Suche dir Freunde, die dich bereichern, und bleibe offen für neues Wissen dein Leben lang. Weisheit endet nie, Freundschaft trägt durchs Leben. Klug ist, wer Menschen und Worte sucht, die Heil und Freude schenken.
Vers 122
Altem Freunde sollst du der erste
Den Bund nicht brechen.
Das Herz frisst dir Sorge, magst du keinem mehr
Deine Gedanken all.
Kommentar:
Einen alten Freund soll man nicht verraten. Wer die Verbindung bricht, trägt schwere Sorgen im Herzen, weil er niemandem mehr vertraut. Odin erinnert daran, dass Freundschaft wertvoller ist als jeder neue Vorteil. In moderner Sicht: Treue und Beständigkeit sind selten, aber kostbar. Wer alte Bande ehrt, besitzt Sicherheit und Halt. Die Lehre: Bewahre deine alten Freunde, denn sie kennen dich tief. Wer das Vertrauen eines alten Freundes zerstört, verliert einen Teil von sich. Freundschaft ist eine Wurzel, die man nicht leichtfertig durchschneidet.
Vers 123
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Mit ungesalznem Narren sollst du
Nicht Worte wechseln.
Kommentar:
Odin warnt davor, mit Narren zu diskutieren. Ein dummer Mensch versteht keine Weisheit und bringt keinen Gewinn. Worte an ihn verschwendet, sind Worte verloren. In moderner Sicht: Nicht jedes Gespräch ist sinnvoll. Manche Menschen suchen nicht Erkenntnis, sondern Streit oder Torheit. Klugheit besteht darin, seine Energie zu wahren und nicht jedem Narren nachzugeben. Die Lehre: Sprich dort, wo Worte Früchte tragen. Schweige, wenn dein Gegenüber nicht bereit ist, zu verstehen. Weisheit bedeutet, die eigenen Kräfte nicht an Unfruchtbares zu verschwenden.
Vers 124
Von albernem Mann magst du niemals
Guten Lohn erlangen.
Nur der Wackere mag dir erwerben
Guten Leumund durch sein Lob.
Kommentar:
Von einem albernen Mann darfst du keinen guten Lohn erwarten. Lob und Anerkennung von Toren sind wertlos. Odin betont, dass nur ein edler, starker Mensch dir ein ehrenvolles Zeugnis geben kann. In moderner Sicht: Der Wert von Anerkennung hängt vom Charakter des Gebers ab. Applaus von Toren ist bedeutungslos, Lob von Gerechten ist ein Schatz. Die Lehre: Suche nicht Anerkennung von allen, sondern von den Würdigen. Ehre liegt darin, dass Menschen von Integrität dich schätzen. Torheit lobt wahllos, Klugheit nur das, was Bestand hat.
Vers 125
Das ist Seelentausch, sagt einer getreulich
Dem andern alles, was er denkt.
Nichts ist übler als unstet sein:
Der ist kein Freund,
der zu Gefallen spricht.
Kommentar:
Wahre Freundschaft ist ein Seelentausch: man teilt Gedanken, Sorgen und Freude. Doch wer unstet ist, widerspricht sich oder redet nur, um zu gefallen, ist kein Freund. Odin zeigt: Ehrlichkeit ist Kern echter Bindung. In moderner Sicht: Beziehungen ohne Aufrichtigkeit sind leer. Ein Freund muss nicht immer zustimmen – er muss ehrlich sein. Die Lehre: Suche die, die dir die Wahrheit sagen, nicht nur, was du hören willst. Treue liegt in Ehrlichkeit, nicht in Schmeichelei. Unstetigkeit zerstört Vertrauen. Freundschaft lebt von Offenheit und Konstanz.
Vers 126
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Drei Worte nicht sollst du mit dem Schlechten wechseln:
Oft unterliegt der Gute,
Der mit dem Schlechten streitet.
Kommentar:
Drei Worte mit einem schlechten Menschen sind schon zu viel. Odin mahnt: Gute verlieren oft, wenn sie mit Schlechten streiten, weil diese keine Regeln kennen. In moderner Sicht: Diskussionen mit Menschen ohne Anstand oder Wahrheit sind fruchtlos. Sie ziehen dich auf ihr Niveau. Die Lehre: Meide unnötigen Streit mit Böswilligen. Energie, die du in solche Kämpfe steckst, geht verloren. Klug ist, wer erkennt, dass nicht jeder Konflikt geführt werden muss. Ehre liegt darin, weise zu wählen, mit wem man überhaupt Worte wechselt.
Vers 127
Schuhe nicht sollst du noch Schäfte machen
Für andre als für dich:
Sitzt der Schuh nicht, ist krumm der Schaft,
Wünscht man dir alles Übel.
Kommentar:
Odin rät, keine Schuhe oder Schäfte für andere zu machen – sinnbildlich: Übernimm nicht die Verantwortung für Dinge, die andere selbst tragen sollten. Denn wenn es nicht passt, wünscht man dir Übel. In moderner Sicht: Versuche nicht, allen zu gefallen oder ihr Leben für sie zu richten. Hilfsbereitschaft ist edel, aber wenn du übernimmst, was anderen gehört, schlägt es gegen dich. Die Lehre: Trage Verantwortung für dein eigenes Tun, nicht für fremdes Maß. Wahre Stärke liegt in Abgrenzung und Selbstbestimmung.
Vers 128
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Wo Not du findest, deren nimm dich an;
doch gib dem Feind nicht Frieden.
Kommentar:
Wo du Not siehst, hilf. Doch deinem Feind sollst du keinen Frieden geben. Odin lehrt hier Balance zwischen Mitgefühl und Klugheit. Hilfe ist ein Gebot der Menschlichkeit, doch Feindschaft darf nicht naiv übergangen werden. In moderner Sicht: Sei hilfsbereit, aber nicht blind. Hilfe soll den Bedürftigen gelten, nicht jenen, die dir schaden wollen. Die Lehre: Menschlichkeit braucht Grenzen. Mitgefühl ist edel, doch Schutz vor Feinden ebenso. Klug ist, wer unterscheidet, wo Hilfe angebracht ist und wo Wachsamkeit das Herz bewahren muss.
Vers 129
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Dich soll andrer Unglück nicht freuen;
Ihren Vorteil lass dir gefallen.
Kommentar:
Odin mahnt: Freue dich nicht am Unglück anderer. Schadenfreude ist eine niedrige Haltung. Doch wenn andere Gutes erfahren, gönne es ihnen. Die Botschaft: Freude soll nicht durch Neid oder Missgunst verdorben werden. In moderner Sicht: Das Glück anderer schmälert dein eigenes nicht. Im Gegenteil: Wer das Gute anderen gönnt, lebt leichter. Die Lehre: Meide Neid, er frisst das Herz. Wähle Mitfreude, sie vergrößert dein eigenes Glück. Wer Gutes gönnt, wächst im Geist. Wer sich am Schlechten freut, vergiftet seine Seele.
Vers 130
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Nicht aufschaun sollst du im Schlachtgetöse:
Ebern ähnlich wurden oft Erdenkinder;
So aber zwingt dich kein Zauber.
Kommentar:
Odin rät: Schaue nicht nach oben im Schlachtgetöse. Wer das tut, wird leicht von Zaubern und Täuschungen gefangen. Stattdessen bleib standhaft, wie ein Eber im Kampf. Die Botschaft: Ablenkung und Furcht machen dich verwundbar. In moderner Sicht: Halte deinen Blick auf das Wesentliche, besonders in Krisen. Wer den Kopf verliert, verliert den Kampf. Die Lehre: Achte auf deine Haltung in schwierigen Zeiten. Bleib konzentriert und geerdet. Wer sich nicht vom Chaos verwirren lässt, behält Macht über sich selbst. Stärke liegt in Fokussierung.
Vers 131
Willst du ein gutes Weib zu deinem Willen bereden
Und Freude bei ihr finden,
So verheiß ihr Holdes und halt es treulich:
Des Guten wird die Maid nicht müde.
Kommentar:
Wer die Liebe einer Frau gewinnen will, soll ihr Gutes versprechen – und es halten. Odin mahnt zur Treue: schöne Worte allein genügen nicht, sie müssen von Taten gestützt werden. Freude wächst aus Aufrichtigkeit. In moderner Sicht: Vertrauen ist das Fundament jeder Beziehung. Wer Zusagen nicht einhält, verliert Respekt und Liebe. Die Lehre: Sei ehrlich in dem, was du versprichst, und halte dich daran. Beziehungen blühen, wenn sie auf Verlässlichkeit gebaut sind. Täuschung mag kurzfristig wirken, doch Treue ist das, was dauerhaft bindet.
Vers 132
Sei vorsichtig, doch sei's nicht allzusehr,
Am meisten sei's beim Met
Und bei des andern Weib; auch wahre dich
Zum dritten vor der Diebe List.
Kommentar:
Vorsicht ist gut, doch übertriebene Vorsicht lähmt. Besonders warnt Odin vor drei Gefahren: dem Übermaß an Alkohol, der Frau eines anderen und der List der Diebe. Mäßigung, Respekt und Wachsamkeit sind entscheidend. In moderner Sicht: Exzesse, Untreue und Betrug gefährden jeden Menschen. Klugheit bedeutet, Versuchungen zu erkennen und Grenzen zu wahren. Die Lehre: Sei wachsam, aber nicht ängstlich. Wahre Stärke liegt in Selbstkontrolle, Respekt vor dem, was anderen gehört, und der Fähigkeit, List zu durchschauen. Balance ist der Schlüssel zu Sicherheit und Ehre.
Vers 133
Mit Schimpf und Hohn verspotte nicht
Den Fremden noch den Fahrenden.
Selten weiß, der zu Hause sitzt
Wie edel ist, der einkehrt.
Kommentar:
Spotte nicht über Fremde oder Reisende. Wer zu Hause sitzt, weiß selten, welche Weisheit und Erfahrung der Reisende bringt. Odin betont: Respekt vor Fremden ist Pflicht. In moderner Sicht: Jeder Mensch trägt Geschichten, Wissen und Erfahrungen, die uns bereichern können. Spott verschließt Türen, Respekt öffnet sie. Die Lehre: Sei gastfreundlich, begegne Fremden mit Würde. Du weißt nicht, welchen Wert sie dir bringen können. Wahre Größe zeigt sich im Umgang mit Unbekannten. Offenheit macht reich, Arroganz macht arm. Jeder Gast ist eine Möglichkeit zu lernen.
Vers 134
Laster und Tugenden liegen den Menschen
In der Brust beieinander.
Kein Mensch ist so gut, dass nichts ihm mangle,
Noch so böse, dass er zu nichts nütze.
Kommentar:
Jeder Mensch trägt Tugenden und Laster in sich. Niemand ist vollkommen gut, niemand völlig schlecht. Odin erinnert daran, dass jeder sowohl Mängel als auch Nutzen hat. In moderner Sicht: Menschen sind komplex. Wir dürfen nicht in Schwarz-Weiß urteilen. Selbst die Fehlerhaften haben Stärken, selbst die Gerechten Schwächen. Die Lehre: Sieh den ganzen Menschen, nicht nur seine Mängel oder Tugenden. Weisheit bedeutet, andere in ihrer Vielschichtigkeit zu erkennen. Verurteilung oder Verherrlichung allein sind töricht. Jeder Mensch kann lehren, fördern oder warnen – auf seine Weise.
Vers 135
Haarlosen Redner verhöhne nicht:
Oft ist gut was der Greis spricht.
Aus welker Haut kommt oft weiser Rat;
Hängt ihm die Hülle gleich,
Schinden ihn auch Schrammen,
Der unter Wichten wankt.
Kommentar:
Odin mahnt, ältere Menschen nicht wegen ihres äußeren Erscheinens zu verspotten. Auch ein von Alter und Narben gezeichneter Mensch kann weisen Rat geben. Weisheit ist nicht an Schönheit oder Stärke gebunden. In moderner Sicht: Alter bringt Erfahrung, und selbst körperliche Schwäche mindert nicht den Wert des Rates. Die Lehre: Respektiere die Worte der Alten. Sie haben Prüfungen überstanden, die dir noch bevorstehen. Spott über Schwäche ist Torheit. Stärke liegt im Erkennen des Wertes, der hinter der äußeren Hülle steckt. Ehre wächst durch Achtung.
Vers 136
Das rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Den Wandrer fahr nicht an, noch weis ihm die Tür:
Gib dem Gehenden gern.
Kommentar:
Behandle Reisende gut, treibe sie nicht fort und weise ihnen nicht grob die Tür. Odin betont Gastfreundschaft als heilige Pflicht. In moderner Sicht: Gastfreundschaft ist Ausdruck von Menschlichkeit. Wer Fremden Würde gibt, ehrt sich selbst. Die Lehre: Schenke anderen, besonders Bedürftigen, Freundlichkeit. Gastfreundschaft baut Brücken und schafft Vertrauen. Selbst kleine Gesten der Offenheit haben große Wirkung. Der, der teilt, verliert nichts – er gewinnt Respekt. Weise ist, wer Türen öffnet, nicht verschließt.
Vers 137
Stark wär der Riegel, der sich rücken sollte
Allen aufzutun.
Gib einen Scherf; dies Geschlecht sonst wünscht
Dir alles Unheil an.
Kommentar:
Odin erkennt: Niemand kann allen gerecht werden. Wer versucht, allen die Tür zu öffnen, trägt eine schwere Last. Doch kleine Gaben, selbst ein Scherf, genügen, um Missgunst zu vermeiden. Die Botschaft: Maßvolle Großzügigkeit schützt. In moderner Sicht: Du musst nicht alles geben, aber du kannst immer etwas geben. Es geht um Bereitschaft, nicht um Überfluss. Die Lehre: Teile, was du kannst, ohne dich zu verzehren. Schon kleine Zeichen der Freundlichkeit verhindern Neid und Feindschaft. Geben ist ein Schutzschild – nicht nur eine Pflicht.
Vers 138
Dies rat ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst:
Wo Ael getrunken wird, ruf die Erdkraft an:
Erde trinkt und wird nicht trunken.
Feuer hebt Krankheit, Eiche Verhärtung,
Ähre Vergiftung,
Der Hausgeist häuslichen Hader.
Mond mindert Tobsucht,
Hundsbiss heilt Hundshaar,
Rune Beredung;
Die Erde nehme Nass auf.
Kommentar:
Odin rät, bei Trank Opfer und Kräfte der Natur anzurufen: Erde, Feuer, Eiche, Korn, Mond, Runen. Jeder Teil der Natur hat heilende oder ordnende Macht. Die Botschaft: Verbundenheit mit Natur und heiligen Kräften stärkt. In moderner Sicht: Natur birgt Heilung und Kraft, wenn wir sie achten. Rituale erinnern uns daran, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind. Die Lehre: Pflege Respekt vor Natur und ihren Kräften. In Achtsamkeit und Verbindung liegt Heilung. Wer Natur würdigt, lebt ausgeglichener und erkennt ihre stille, beständige Kraft.
Rúnatál
Vers 139
Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum
Neun lange Nächte,
Vom Speer verwundet, dem Odin geweiht,
Mir selber ich selbst,
Am Ast des Baums, dem man nicht ansehn kann
Aus welcher Wurzel er spross.
Kommentar:
Odin erzählt von seinem Selbstopfer: neun Nächte hing er am Weltenbaum, verwundet vom Speer, sich selbst geopfert, um Weisheit zu gewinnen. Dies ist das Herz seines Runenlieds: Erkenntnis kostet Schmerz und Opfer. In moderner Sicht: Tiefe Einsicht entsteht nicht ohne Leiden. Wachstum kommt aus Prüfungen, nicht aus Bequemlichkeit. Die Lehre: Wer Weisheit sucht, muss bereit sein, Opfer zu bringen. Wahres Lernen fordert Hingabe und Mut, selbst wenn es schmerzt. Stärke liegt darin, für Erkenntnis den eigenen Komfort zu verlassen.
Vers 140
Sie boten mir nicht Brot noch Met;
Da neigt ich mich nieder
Auf Runen sinnend, lernte sie seufzend:
Endlich fiel ich zur Erde.
Kommentar:
Ohne Brot und Met hing Odin, bis er sich den Runen näherte. Am Ende fiel er erschöpft zur Erde, doch bereichert durch Wissen. Die Botschaft: Weisheit entsteht im Verzicht, im Aushalten, im Durchstehen von Not. Erst wenn man alles verliert, findet man den Kern. In moderner Sicht: Manchmal bringt Entbehrung mehr Wachstum als Genuss. Wer sich bewusst Prüfungen stellt, gewinnt Tiefe. Die Lehre: Lernen erfordert Opfer, aber die Belohnung ist unvergleichlich. In der Dunkelheit wächst Erkenntnis, wenn man durchhält. Stärke und Weisheit gehen Hand in Hand.
Vers 141
Hauptlieder neun lernt ich von dem weisen Sohn
Bölthorns, des Vaters Bestlas,
Und trank einen Trunk des teuern Mets
Aus Odhrörir geschöpft.
Kommentar:
Odin berichtet, wie er neun Lieder vom weisen Sohn Bölthorns lernte und den Met der Weisheit trank. Hier wird deutlich, dass Wissen nicht nur durch Opfer, sondern auch durch Lernen und Lehren anderer wächst. In moderner Sicht: Weisheit ist ein Geschenk, das durch Weitergabe lebt. Jeder Lehrer, jedes Lied, jede Erfahrung ist ein Tropfen Met, der uns bereichert. Die Lehre: Sei offen, Wissen von anderen anzunehmen. Auch Götter lernen. Stärke liegt darin, sich belehren zu lassen. Weisheit ist kein Besitz, sondern ein Strom, der weitergegeben wird.
Vers 142
Zu gedeihen begann ich und begann zu denken,
Wuchs und fühlte mich wohl.
Wort aus dem Wort verlieh mir das Wort,
Werk aus dem Werk verlieh mir das Werk.
Kommentar:
Mit dem Met der Weisheit begann Odin zu gedeihen. Wort gebar Wort, Werk gebar Werk – Wissen schafft Neues, wenn es geteilt und angewendet wird. Die Botschaft: Erkenntnis wächst durch Praxis und Ausdruck. In moderner Sicht: Ideen entfalten sich erst, wenn man sie ausspricht oder in Taten verwandelt. Lernen ist nicht passiv, sondern aktiv. Die Lehre: Handle, sprich, schreibe – so wächst Weisheit. Erkenntnis nährt sich selbst, wenn sie gelebt wird. Wachstum entsteht aus Anwendung, nicht aus bloßem Sammeln. Wissen verlangt Bewegung, nicht Stillstand.
Vers 143
Runen wirst du finden und Ratstäbe,
Sehr starke Stäbe,
Sehr mächtige Stäbe.
Erzredner ersann sie, Götter schufen sie,
Sie ritzte der hehrste der Herrscher.
Kommentar:
Odin beschreibt die Runen als machtvolle Symbole: geschaffen von Göttern, erdacht von Weisen, geritzt von Herrschern. Sie sind mehr als Zeichen – sie sind Kräfte. In moderner Sicht: Symbole, Sprache und Rituale haben Macht, weil sie Bedeutung tragen. Worte sind Werkzeuge, die Wirklichkeit formen. Die Lehre: Sei achtsam mit Symbolen und Sprache. Sie tragen die Kraft von Generationen. Wer sie respektlos gebraucht, verspielt ihre Macht. Weisheit liegt darin, Symbole nicht nur zu lesen, sondern ihre Tiefe zu verstehen. Worte sind mehr als Klang.
Vers 145
Odin den Riesen, den Alfen Dain,
Dwalin den Zwergen,
Alswid aber den Riesen; einige schnitt ich selbst.
Kommentar:
Die Runen stammen aus vielen Quellen: von Riesen, Alfen, Zwergen – und auch von Odin selbst. Weisheit ist also nicht einseitig, sondern ein Geflecht vieler Ursprünge. In moderner Sicht: Kein Mensch besitzt alle Erkenntnis allein. Wissen entsteht durch Vielfalt, durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Kulturen, Stimmen und Erfahrungen. Die Lehre: Suche Weisheit an vielen Orten. Jeder kann beitragen – selbst der, den du gering achtest. Klug ist, wer erkennt, dass kein Ursprung minderwertig ist. Wahrheit entsteht aus der Summe vieler Hände und vieler Wege.
Vers 145
Weißt du zu ritzen? Weißt du zu erraten?
Weißt du zu finden? Weißt zu erforschen?
Weißt du zu bitten? Weißt Opfer zu bieten?
Weißt du wie man senden, weißt wie man tilgen soll?
Kommentar:
Odin stellt Fragen: Weißt du zu ritzen, zu erraten, zu erforschen, zu bitten, zu opfern, zu senden, zu tilgen? Diese Fragen sind Prüfungen: Weisheit erfordert nicht nur Wissen, sondern auch Anwendung und Opferbereitschaft. In moderner Sicht: Lebenskunst ist mehr als Theorie. Es geht um das Können, nicht nur das Wissen. Die Lehre: Stelle dir selbst diese Fragen. Weißt du, wie man richtig handelt, bittet, gibt und verzichtet? Weisheit zeigt sich in Taten. Fragen sind Spiegel, die uns prüfen. Klug ist, wer immer neu fragt und sucht.
Ljóðatal
Vers 146
Besser nicht gebeten, als zu viel geboten:
Die Gabe will stets Vergeltung.
Besser nichts gesendet, als zu viel getilgt;
So ritzt es Thundr zur Richtschnur den Völkern.
Dahin entwich er, von wannen er ausging.
Kommentar:
Besser wenig bitten als zu viel fordern, besser maßvoll geben als zu viel nehmen – so lehrt Odin. Jede Gabe verlangt Gegengabe, jedes Opfer hat Gewicht. Maß ist der Schlüssel. In moderner Sicht: Übermaß zerstört Balance. Wer zu viel fordert oder gibt, verstrickt sich in Schuld. Weisheit liegt in der Mäßigung: genug, aber nicht zu viel. Die Lehre: Finde das rechte Maß im Nehmen und Geben. Übertreibung führt zu Abhängigkeit und Verlust. Balance ist das Fundament dauerhafter Beziehungen und gerechter Ordnung.
Vers 147
Lieder kenn ich, die kann die Königin nicht
Und keines Menschen Kind.
Hilfe verheißt mir eins, denn helfen mag es
In Streiten und Zwisten und in allen Sorgen.
Kommentar:
Odin kennt Lieder, die Königin noch Kind nicht wissen. Eins davon bringt Hilfe in Streit, Zwist und Sorge. Magie und Wissen sind hier Ausdruck von Trost und Unterstützung. In moderner Sicht: Jeder Mensch trägt „Lieder“ in sich – Fähigkeiten, die anderen helfen können. Weisheit besteht darin, diese Gaben zum Wohl einzusetzen. Die Lehre: Nutze dein Wissen, um anderen in Not zu helfen. Wahre Stärke ist nicht Selbstzweck, sondern Hilfe. Hilfe in dunkler Stunde ist die edelste Anwendung von Erkenntnis.
Vers 148
Ein andres weiß ich, des alle bedürfen,
Die heilkundig heißen.
Kommentar:
Ein weiteres Lied kennt Odin, das Heilung schenkt, gebraucht von Heilkundigen. Die Botschaft: Weisheit umfasst auch Heilkunst – das Wissen, Leid zu lindern. In moderner Sicht: Heilen ist ein zentraler Ausdruck menschlicher Verantwortung. Ob durch Medizin, Rat oder Mitgefühl – Heilung ist Teil von Weisheit. Die Lehre: Strebe nicht nur nach Macht, sondern auch nach der Fähigkeit, zu helfen und zu heilen. Klugheit ohne Mitgefühl ist leer. Wer heilt, bringt Licht. Heilkunst ist Weisheit im Dienst des Lebens.
Vers 149
Ein drittes weiß ich, des ich bedarf
Meine Feinde zu fesseln.
Die Spitze stumpf ich dem Widersacher;
Mich verwunden nicht Waffen noch Listen.
Kommentar:
Odin kennt ein Lied, das ihn schützt: Feinde fesseln, Waffen stumpfen, List entkräften. Er macht sich unverwundbar durch Wissen, nicht durch rohe Gewalt. In moderner Sicht: Schutz liegt in kluger Vorbereitung, in Verstand und Strategie. Wer Weisheit nutzt, macht sich stark gegen Angriffe. Die Lehre: Rüste dich nicht nur mit Waffen, sondern mit Wissen. Geistige Stärke übertrifft körperliche. Feinde verlieren Macht über dich, wenn du klug und gefestigt bist. Wissen ist das größte Schild.
Vers 150
Ein viertes weiß ich, wenn der Feind mir schlägt
In Bande die Bogen der Glieder,
So bald ich es singe, so bin ich ledig,
Von den Füßen fällt mir die Fessel,
Der Haft von den Händen.
Kommentar:
Ein weiteres Lied befreit Odin aus Fesseln: sobald er es singt, fallen die Banden von Händen und Füßen. Das Bild zeigt: Wissen macht frei. Die Botschaft: Weisheit sprengt Ketten, befreit den Geist und den Körper. In moderner Sicht: Unterdrückung, Lüge oder Angst können Menschen binden, doch Erkenntnis und innere Stärke lösen sie. Die Lehre: Suche nach Wissen, das dich frei macht. Freiheit kommt nicht nur durch Gewalt, sondern durch Einsicht und Mut. Weisheit befreit – sie ist die größte Macht gegen Knechtschaft.
Vers 151
Ein fünftes kann ich: fliegt ein Pfeil gefährdend
Übers Heer daher,
Wie hurtig er fliege, ich mag ihn hemmen,
Erschau ich ihn nur mit der Sehe.
Kommentar:
Odin kennt ein Lied, mit dem er fliegende Pfeile aufhalten kann, sobald er sie sieht. Das Bild zeigt: Wissen kann selbst die schnellsten Gefahren stoppen. In moderner Sicht: Achtsamkeit und innere Stärke helfen, Bedrohungen rechtzeitig zu erkennen und abzuwehren. Gefahr verliert ihre Macht, wenn man sie früh bemerkt. Die Lehre: Aufmerksamkeit schützt. Wer wachsam und vorbereitet ist, kann selbst plötzlich auftauchende Krisen meistern. Weisheit wirkt wie ein Schild, der unsichtbar schützt – sie fängt den „Pfeil“ ab, bevor er sein Ziel trifft.
Vers 152
Ein sechstes kann ich, so wer mich versehrt
Mit harter Wurzel des Holzes:
Den andern allein, der mir es antut,
Verzehrt der Zauber, ich bleibe frei.
Kommentar:
Wenn jemand Odin mit Holz verwundet, fällt der Schaden zurück auf den Täter, während Odin selbst verschont bleibt. Dieses Lied symbolisiert die Kraft, Angriffe umzuwenden. In moderner Sicht: Wer klug ist, macht die Feindseligkeit anderer wirkungslos, indem er sie zurückspiegelt. Aggression zerstört oft den, der sie entfesselt. Die Lehre: Lass dich nicht von Hass verletzen, sondern bleib standhaft. Wer seine Energie nicht an dich binden kann, wird sie selbst verbrennen. Weisheit verwandelt Angriffe in die eigene Strafe des Angreifers.
Vers 153
Ein siebentes weiß ich, wenn hoch der Saal steht
Über den Leuten in Lohe,
Wie breit sie schon brenne, ich berge sie noch:
Den Zauber weiß ich zu zaubern.
Kommentar:
Odin kennt ein Lied, mit dem er selbst lodernde Flammen im Saal bezwingen kann. Das Bild zeigt: Weisheit schützt vor zerstörerischen Kräften, die andere vernichten. In moderner Sicht: Feuer steht für Krisen, Chaos, Katastrophen. Wer klug handelt, findet auch dort Auswege, wo andere verzweifeln. Die Lehre: Bleib ruhig in der Not. Wissen und kluge Entscheidungen helfen, Flammen zu ersticken – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Der Weise ist nicht ohnmächtig im Angesicht von Gefahr, sondern kennt Wege, sie zu überwinden.
Vers 154
Ein achtes weiß ich, das allen wäre
Nützlich und nötig:
Wo unter Helden Hader entbrennt,
Da mag ich schnell ihn schlichten.
Kommentar:
Ein weiteres Lied schenkt Odin die Macht, Streit zwischen Helden zu schlichten. Er kann Zwist beenden, bevor er in Gewalt umschlägt. In moderner Sicht: Vermittlung ist eine der höchsten Tugenden. Wer Frieden stiften kann, ist mächtiger als der, der siegt. Die Lehre: Weisheit zeigt sich darin, Konflikte nicht eskalieren zu lassen, sondern Brücken zu bauen. Wer Hader beendet, schützt Leben und Ehre. Der Weise ist nicht nur Kämpfer, sondern Vermittler. Frieden zu stiften ist eine Form von Größe, die Mut und Umsicht verlangt.
Vers 155
Ein neuntes weiß ich, wenn Not mir ist
Vor der Flut das Fahrzeug zu bergen,
So wend ich den Wind von den Wogen ab
Und beschwichtge rings die See.
Kommentar:
Odin kann den Sturm stillen und die See besänftigen, um ein Fahrzeug vor der Flut zu retten. Das Bild: Wissen bringt Ruhe in chaotische Kräfte. In moderner Sicht: Lebensstürme bedrohen jeden Menschen – doch mit innerer Stärke und kluger Führung können sie gemeistert werden. Die Lehre: Sei wie Odin, wenn das Chaos tobt: bleib ruhig, wende die Wogen ab. Wer Gelassenheit und Klarheit bewahrt, beruhigt nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Weisheit ist die Kraft, Stürme zu besänftigen – innen wie außen.
Vers 156
Ein zehntes kann ich, wenn Zaunreiterinnen
Durch die Lüfte lenken,
So wirk ich so, dass sie wirre zerstäuben
Und als Gespenster schwinden.
Kommentar:
Dieses Lied schützt vor Zaunreiterinnen – Hexen oder Geistern, die durch die Luft fliegen. Odin kann sie zerstreuen und verschwinden lassen. Die Botschaft: Falsche, angstmachende Mächte verlieren ihre Kraft, wenn man ihnen standhält. In moderner Sicht: Viele „Gespenster“ unseres Lebens sind Illusionen, die durch Angst genährt werden. Klugheit vertreibt sie. Die Lehre: Fürchte dich nicht vor Spuk und Täuschung. Wer klar bleibt, erkennt, was wirklich ist, und zerstört so die Macht des Scheins. Weisheit entlarvt, was keine echte Kraft besitzt.
Vers 157
Ein elftes kann ich, wenn ich zum Angriff soll
Die treuen Freunde führen,
In den Schild fing ich's, so ziehn sie siegreich
Heil in den Kampf, heil aus dem Kampf,
Bleiben heil wohin sie ziehn.
Kommentar:
Odin kennt ein Lied, das Freunde schützt, wenn er sie in den Kampf führt. Ihr Mut und ihr Heil bleiben gewahrt. Die Botschaft: Weisheit stärkt die Gemeinschaft. In moderner Sicht: Ein wahrer Führer sorgt nicht nur für Sieg, sondern auch für die Unversehrtheit seiner Gefährten. Schutz und Fürsorge sind die edelsten Zeichen von Führung. Die Lehre: Wer Verantwortung trägt, soll für die Sicherheit anderer sorgen. Der Weise kämpft nicht allein für sich, sondern für das Wohlergehen seiner Gemeinschaft. Treue schafft Heil.
Vers 158
Ein zwölftes kann ich, wo am Zweige hängt
Vom Strang erstickt ein Toter,
Wie ich ritze das Runenzeichen,
So kommt der Mann und spricht mit mir.
Kommentar:
Odin kennt ein Lied, das Tote zum Sprechen bringt. Er kann vom Strang Erhängte zurückrufen, um mit ihnen zu reden. Das Bild: Wissen überwindet sogar den Tod – zumindest, um Einsicht zu gewinnen. In moderner Sicht: Die Vergangenheit „zum Sprechen bringen“ bedeutet, aus ihr zu lernen. Geschichte und Erinnerung sind Quellen der Weisheit. Die Lehre: Höre auf die Stimmen der Vergangenheit. Wer zuhört, lernt aus Fehlern und Siegen der Toten. Weisheit ist, den Toten Gehör zu schenken, damit ihre Erfahrung den Lebenden nützt.
Vers 159
Ein dreizehntes kann ich, soll ich ein Degenkind
In die Taufe tauchen,
So mag er nicht fallen im Volksgefecht,
Kein Schwert mag ihn versehren.
Kommentar:
Ein weiteres Lied schützt Kinder: Wer es spricht, macht das Neugeborene unverwundbar in der Schlacht. In moderner Sicht: Hier geht es um Fürsorge und Schutz des Schwachen. Kinder sind die Zukunft, sie brauchen den Schutz der Älteren. Die Lehre: Weisheit bedeutet, die kommenden Generationen zu sichern. Sorge für ihre Stärke, dass sie bestehen können. Magie oder Wissen sind Metaphern für Fürsorge, Erziehung und Schutz. Der Weise denkt über sein eigenes Leben hinaus und schützt die Zukunft.
Vers 160
Ein vierzehntes kann ich, soll ich dem Volke
Der Götter Namen nennen,
Asen und Alfen kenn ich allzumal;
Wenige sind so weise.
Kommentar:
Odin kennt die Namen der Götter und Alfen – ein Wissen, das nur wenige besitzen. Dieses Lied betont, dass Namen Macht haben: Wer benennt, erkennt. In moderner Sicht: Wissen über Identität, Herkunft und Zusammenhänge ist Macht. Wer versteht, wie Dinge heißen und woher sie kommen, hat Tiefe. Die Lehre: Suche Wissen über deine Wurzeln und die Kräfte, die dich umgeben. Namen sind nicht nur Worte, sie sind Schlüssel zur Wirklichkeit. Weisheit bedeutet, Dinge beim Namen zu kennen und damit ihren Sinn zu verstehen.
Vers 161
Ein fünfzehntes kann ich, das Volkrörir der Zwerg
Vor Dellings Schwelle sang:
Den Asen Stärke, den Alfen Gedeihn,
Hohe Weisheit dem Hroptatyr.
Kommentar:
Odin erinnert an ein Lied, das der Zwerg Volkrörir sang: Es schenkte den Asen Stärke, den Alfen Gedeihen und ihm selbst Weisheit. Hier zeigt sich: Gesang und Wissen sind schöpferische Kräfte, die Völker stärken. In moderner Sicht: Worte, Rituale und gemeinsame Symbole stiften Zusammenhalt. Ein Volk lebt von Inspiration, Wissen und geteiltem Sinn. Die Lehre: Pflege deine Gemeinschaft, indem du ihr Kraft durch Worte und Taten gibst. Weisheit, die geteilt wird, macht stark. Wissen für sich allein nützt wenig – es entfaltet Wirkung im Miteinander.
Vers 162
Ein sechzehntes kann ich, will ich schöner Maid
In Lieb und Lust mich freuen,
Den Willen wandl ich der Weißarmigen,
Dass ganz ihr Sinn sich mir gesellt.
Kommentar:
Odin kennt ein Lied, das den Willen einer Maid wandeln kann, sodass sie ihm ganz zugetan wird. Dieser Vers zeigt die Macht der Verführung durch Worte und Zauber. In moderner Sicht: Er mahnt uns, wie stark Einflussnahme sein kann – zum Guten wie zum Schlechten. Die Lehre: Nutze deine Fähigkeiten, um zu gewinnen, aber missbrauche sie nicht. Wahre Liebe entsteht nicht durch Manipulation, sondern durch Freiheit. Klug ist, wer erkennt, dass echte Zuneigung nur dann wertvoll ist, wenn sie freiwillig geschenkt wird.
Vers 163
Ein siebzehntes kann ich, dass schwerlich wieder
Die holde Maid mich meidet.
Dieser Lieder, magst du, Loddfafnir,
Lange ledig bleiben.
Doch wohl dir, weißt du sie,
Heil dir, behältst du sie,
Selig, singst du sie!
Kommentar:
Mit einem weiteren Lied kann Odin erreichen, dass ihn die Maid nicht verlässt. Er hebt jedoch hervor, dass diese Lieder nicht jedermanns Sache sind – sie bringen Glück, wenn man sie kennt und beherrscht. Die Botschaft: Wissen gibt Macht, aber auch Verantwortung. In moderner Sicht: Fähigkeiten, die Beziehungen binden, sind wertvoll, doch sie müssen mit Sorgfalt und Ehre genutzt werden. Die Lehre: Suche Bindungen, die auf Wahrheit beruhen. Magie der Worte und Gesten ist stark, aber ohne Aufrichtigkeit wird sie hohl.
Vers 164
Ein achtzehntes weiß ich, das ich aber nicht singe
Vor Maid noch Mannesweibe
Als allein vor ihr, die mich umarmt,
Oder sei es, meiner Schwester.
Besser ist was einer nur weiß;
So frommt das Lied mir lange.
Kommentar:
Das achtzehnte Lied behält Odin für sich – es ist zu heilig, um es anderen zu lehren. Nur seiner engsten Vertrauten oder Schwester würde er es anvertrauen. Die Botschaft: Nicht jedes Wissen darf geteilt werden. Geheimnisse bewahren Kraft. In moderner Sicht: Manche Dinge sind so tief, dass sie geschützt werden müssen – sei es Wissen, Gefühle oder Erfahrungen. Die Lehre: Weisheit bedeutet nicht, alles preiszugeben. Manche Wahrheiten entfalten ihre Stärke nur, wenn sie gehütet werden. Diskretion und Stille sind Teil echter Weisheit.
Vers 165
Des Hohen Lied ist gesungen
In des Hohen Halle,
Den Erdensöhnen not, unnütz den Riesensöhnen.
Wohl ihm, der es kann, wohl ihm, der es kennt,
Lange lebt, der es erlernt,
Heil allen, die es hören.
Kommentar:
Mit diesen Worten endet das Hávamál: Das hohe Lied wurde in Odins Halle gesungen, zum Nutzen der Menschen, nicht der Riesen. Wohl dem, der es kennt, denn es bringt Heil, langes Leben und Segen. In moderner Sicht: Weisheit ist ein Geschenk an die Menschheit, eine Lehre, die uns Halt, Orientierung und Sinn gibt. Die Lehre: Nimm diese Worte ernst, bewahre sie und wende sie an. Heil und Stärke liegen im Hören, Lernen und Leben nach der Weisheit. Es ist Vermächtnis und Auftrag zugleich.
Die Hávamál sind weit mehr als ein Gedicht – sie sind ein Fenster in die nordische Welt des Denkens, Fühlens und Glaubens. Als Kombination aus Lebensratgeber, spiritueller Unterweisung und mythologischer Erzählung geben sie tiefe Einblicke in die Kultur der Wikinger und ihrer Götter. Wer sich auf die Hávamál einlässt, begegnet Odin nicht nur als Kriegsgott, sondern als Wanderer, Weiser, Opfernder und Lehrer. Ihre Botschaften sind zeitlos – zwischen den Versen flüstert der Wind vergangener Jahrhunderte.
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