Die nordische Mythologie kennt nicht nur strahlende Helden und mächtige Götter, sondern auch Figuren, deren Schicksal von Tragik und Unausweichlichkeit bestimmt ist. Einer der ergreifendsten dieser Götter ist Höðr (altnordisch Höðr, auch Hodur oder Hothr), der blinde Sohn Odins. Er ist vor allem durch eine einzige, aber welterschütternde Tat bekannt: den unbeabsichtigten Mord an seinem Bruder Baldr, dem Gott des Lichts und der Reinheit. Höðrs Rolle zeigt eindringlich, dass selbst die Asen nicht frei von Schicksal, Täuschung und tragischer Schuld sind.
Höðr ist einer der Söhne Odins und damit Bruder von Göttern wie Thor, Baldr, Váli und Víðarr. Er wird durchgehend als blind beschrieben, was ihn in einer Welt der Kämpfer und Seher besonders macht. Blindheit in der nordischen Vorstellungswelt war nicht nur eine physische Schwäche, sondern symbolisierte auch Abhängigkeit von anderen und eine gewisse Nähe zum Schicksal, das den Blicken der Sterblichen ohnehin verborgen bleibt.
Die wichtigste Episode seines Mythos ist die Tötung Baldurs, die in der Prosa-Edda Snorris sowie in der Lieder-Edda (insbesondere in der Baldrs draumar und Völuspá) überliefert ist. Nachdem Baldr von Träumen über seinen nahenden Tod gequält wurde, ließ seine Mutter Frigg von allen Wesen, Pflanzen und Metallen einen Eid schwören, Baldr nicht zu verletzen – mit Ausnahme der unscheinbaren Mistel, die sie für zu harmlos hielt.
Daraufhin begannen die Asen, sich zum Spiel zu versammeln, bei dem sie Baldr mit Waffen und Steinen bewarfen, die allesamt an ihm abprallten. Nur Loki, der Intrigant, entdeckte die Schwäche. Er schnitzte aus Mistelholz einen Speer und übergab ihn dem blinden Höðr. Arg- und schuldlos, nichtsahnend und geführt von Lokis Hand, warf Höðr die Waffe – und Baldr fiel tot zu Boden.
So wurde Höðr, ohne es zu wissen oder zu wollen, zum Brudermörder und zum Auslöser einer der größten Katastrophen der nordischen Mythenwelt. Baldurs Tod gilt als unmittelbare Vorstufe zu Ragnarök, dem Untergang der Götter.
Über einen eigenständigen Kult um Höðr ist nichts überliefert. Anders als Thor, Odin oder Freyr, die aktiv verehrt wurden, ist Höðrs Rolle zu eng mit dem tragischen Schicksal Baldurs verknüpft. Dennoch verkörpert er Aspekte, die für die nordische Gesellschaft von Bedeutung waren: Blindheit, Unschuld und zugleich das unausweichliche Wirken des Schicksals.
Höðr war keine Gottheit, an die man sich im Alltag wandte, sondern eher eine Figur, die in den Mythen warnte: vor Täuschung, vor Unwissenheit und vor dem tragischen Spiel der Nornen, die den Faden des Schicksals spinnen. Seine Geschichte zeigt, dass auch Götter nicht über dem Netz des Schicksals stehen und dass selbst die Reinheit und Unschuld von Baldr am Ende durch eine List zerstört werden können.
Die Symbolik Höðrs ist tiefgründig und berührend. Seine Blindheit ist mehr als nur ein körperliches Merkmal – sie macht ihn zum Symbol für das „Nichtsehen“ und damit für das Unausweichliche. Er steht für die Macht des Schicksals, das den Blicken entzogen bleibt, und für die Tatsache, dass selbst Götter nicht immer wissen, welche Kräfte durch sie wirken.
Seine Rolle als ungewollter Brudermörder macht ihn zu einer tragischen Figur, die nicht aus eigener Schuld, sondern aus Täuschung und Unwissenheit zum Werkzeug des Untergangs wird. Damit verkörpert er den Aspekt des Schicksals, der ohne Schuld und doch mit verheerender Wirkung in die Welt eingreift.
Zugleich symbolisiert Höðr auch die dunkle Seite der Asenwelt. Während Baldr für Licht, Schönheit und Reinheit steht, repräsentiert Höðr als sein Bruder die Nacht, die Blindheit und das Unheil. Beide bilden ein komplementäres Paar, in dem sich das duale Weltbild der nordischen Kultur widerspiegelt: Licht und Dunkelheit, Leben und Tod, Wissen und Blindheit.
Die wichtigsten Hinweise auf Höðr stammen aus der Lieder-Edda und der Prosa-Edda. In der Völuspá wird der Tod Baldurs als schicksalhaftes Ereignis geschildert, das den Beginn von Ragnarök einleitet. Die Baldrs draumar erzählen, wie Odin selbst in die Unterwelt hinabsteigt, um von einer Völva mehr über Baldurs Schicksal zu erfahren – hier wird Höðr bereits als der Täter angekündigt.
In Snorris Prosa-Edda wird der Ablauf der Tötung detailliert erzählt: Loki führt Höðrs Hand und lässt ihn den Speer aus Mistelholz schleudern. Snorri betont dabei, dass Höðr keine Schuld traf, da er blind und unwissend war.
Darüber hinaus berichten einige Skaldendichtungen von Höðr, oft in Verbindung mit Baldur, wobei beide als Gegenpole beschrieben werden. Archäologische Hinweise auf eine Verehrung Höðrs fehlen – was kaum überrascht, da seine Gestalt eher warnende Mythologie als kultische Praxis verkörpert.
Spannend ist jedoch die Darstellung, dass Höðr nach Ragnarök gemeinsam mit Baldr zurückkehren soll. Die beiden Brüder, die durch Tod und Schuld getrennt wurden, sollen in der neuen Welt Seite an Seite herrschen – ein mythisches Bild für Vergebung, Versöhnung und den Neuanfang nach dem Untergang.
In der modernen Deutung wird Höðr oft als eine der komplexesten Figuren der nordischen Mythologie verstanden. Er ist nicht Bösewicht, sondern Opfer; nicht Feind, sondern Werkzeug. In der Literatur, Kunst und Populärkultur taucht er seltener auf als Odin, Thor oder Loki, doch seine Geschichte inspiriert als eine der tragischsten Erzählungen der Edda.
In neopaganen Kreisen wird Höðr manchmal als Symbol für das Akzeptieren des Unausweichlichen gesehen. Seine Figur erinnert daran, dass Schicksal nicht immer durch Willen gebrochen werden kann und dass Unschuld nicht vor Katastrophe schützt. Gleichzeitig ist die Vorstellung seiner Rückkehr mit Baldr ein Hoffnungssymbol: dass selbst Schuld und Tod überwunden werden können.
Höðr ist eine der tragischsten Gestalten der nordischen Mythologie. Als blinder Gott, der durch Täuschung seinen Bruder Baldr tötet, wird er zum unfreiwilligen Werkzeug des Schicksals. Er verkörpert Blindheit, Unwissenheit, Schuld und zugleich die Macht der Nornen, deren Fäden selbst die Asen nicht entkommen können. Doch seine Rückkehr mit Baldr nach Ragnarök zeigt, dass selbst das tiefste Leid nicht das letzte Wort hat. Höðr ist damit nicht nur Symbol für den unausweichlichen Untergang, sondern auch für die Hoffnung auf Versöhnung und Erneuerung.
Jetzt vorbestellen!
Die Hávamál, Odins Weisheiten, Zitate und Verse, in deutscher Ausgabe inklusive moderner Interpretation seitens NorseStory. Sicher dir dein Exemplar der Erstauflage der Hávamál aus dem Verlag NorseStory.
Dir gefällt der Blog und der Verlag?
Dann unterstütze unsere Arbeit, Recherche und unser Projekt "NorseStory - auf den Spuren der Wikinger" gerne mit einer PayPal Spende. Jede Spende wird in den Verlag NorseStory investiert.
Ein paar weitere Leseempfehlungen für dich - oder wähle deine nächste Kategorie im Wikinger Blog:
Blog Übersicht | Wikinger Runen | Wikinger Götter | Wikinger Symbole | Wikinger Welten | Wikinger Tiere | Wikinger Begriffe | Wikinger Kräuter | Wikinger Feiertage | Wikinger Geschichten | Wikinger Personen | Wikinger Waffen | Wikinger Rituale | Wikinger Berufe | Wikinger Edelsteine | Wikinger Ereignisse | Wikinger Farben | Deutsche Burgen
Durchsuche den Wikinger Blog
Blog Kategorien
>> Blog Übersicht
>> Wikinger Runen
>> Wikinger Götter
>> Wikinger Symbole
>> Wikinger Welten
>> Wikinger Tiere
>> Wikinger Begriffe
>> Wikinger Kräuter
>> Wikinger Feiertage
>> Wikinger Geschichten
>> Wikinger Personen
>> Wikinger Waffen
>> Wikinger Rituale
>> Wikinger Berufe
>> Wikinger Edelsteine
>> Wikinger Ereignisse
>> Wikinger Farben
>> Deutsche Burgen
Verlag
Rechtliches
Mehr von uns