In der Welt der Wikinger und Germanen war das gesprochene Wort weit mehr als ein bloßer Laut. Es war bindend, mächtig und gefährlich zugleich. Ein Schwur oder ein Versprechen galt als heiliges Band, das nicht gebrochen werden durfte, ohne Ehre, Ansehen oder sogar Leben zu verlieren. Über dieser Sphäre der Verbindlichkeit wachte eine Göttin: Vár. Ihr Name bedeutet so viel wie „Gelöbnis, Versprechen“ (varar im Altnordischen) und ihre Funktion war es, über den Wahrheitsgehalt und die Ernsthaftigkeit von Eiden zu wachen. Vár ist eine stille, aber fundamentale Figur im Pantheon. Sie steht nicht für Krieg oder Fruchtbarkeit, sondern für die Ordnung im Zwischenmenschlichen. Ihre Gestalt erinnert daran, dass auch in einer Gesellschaft, die von Blutfehden, Ehre und Gewalt geprägt war, das Wort als heiliges Fundament galt.
Snorri Sturluson nennt Vár in der Gylfaginning der Prosa-Edda unter den Asinnen. Dort heißt es, dass sie „die Eide der Menschen hört und die Vereinbarungen, die zwischen Mann und Frau getroffen werden“. Wer seine Schwüre bricht, ruft ihren Zorn auf sich.
Diese knappe Beschreibung ist bezeichnend: Vár wird nicht in großen Göttergeschichten oder Schlachten erwähnt, sondern in einem Kontext, der den Alltag betrifft – in Eiden, Verträgen und Versprechen. Besonders interessant ist der Hinweis auf „die Vereinbarungen zwischen Mann und Frau“, was auf ihre Rolle im Bereich der Ehe und familiären Bindungen verweist.
In einer Gesellschaft, in der Ehen vor allem als rechtliche und ökonomische Bündnisse zwischen Familien galten, war es entscheidend, dass Schwüre und Gelöbnisse eingehalten wurden. Vár war die göttliche Instanz, die dafür stand, dass das gesprochene Wort Bestand hatte.
Über die konkrete Verehrung Várs ist in den schriftlichen Quellen nur wenig direkt überliefert, doch lässt sich aus den überlieferten Schwurtraditionen der Wikingerzeit viel über ihre Rolle im Alltag rekonstruieren. Ein Schwur war in der nordischen Gesellschaft nicht bloß eine formale Handlung, sondern ein heiliger Akt, der das eigene Leben und das Schicksal ganzer Sippen binden konnte. Wenn Krieger ihren Eid auf den Ring des Häuptlings schworen oder wenn zwei Familien durch ein Eheversprechen verbunden wurden, dann war dies nicht nur eine weltliche Angelegenheit, sondern zugleich ein spirituelles Ritual, das im Schutz Várs stand.
Man kann sich vorstellen, dass Vár vor allem in häuslichen und rechtlichen Zusammenhängen angerufen wurde. Wenn zwei Menschen heirateten, galt es, das Ehegelöbnis unter den Schutz der Göttin zu stellen. Ebenso dürfte sie bei Verhandlungen und bei der Besiegelung von Bündnissen eine Rolle gespielt haben, da ihr Name für unerschütterliche Verbindlichkeit stand. Vermutlich wurde sie nicht in großen öffentlichen Tempeln geehrt wie Odin oder Thor, sondern in den kleineren, intimen Momenten des Lebens – in der Halle, im Haus oder an Orten, die als heilig für Verträge und Versprechen galten.
Manche Forscher gehen davon aus, dass symbolische Gesten wie das Handreichen, das Trinken aus einem gemeinsamen Gefäß oder das Berühren heiliger Ringe Ausdruck der Anrufung Várs gewesen sein könnten. Es ist denkbar, dass sie dabei still angerufen wurde, nicht mit großem Kult und Opferfesten, sondern im ehrfürchtigen Bewusstsein, dass sie unsichtbar zuhörte. Vár brauchte keine lauten Feiern – sie war die stille Zeugin, die alles registrierte und bewahrte.
Besonders in der Ehe dürfte ihre Präsenz greifbar gewesen sein. Der Bund zwischen Mann und Frau war nicht nur eine private Angelegenheit, sondern hatte soziale und ökonomische Dimensionen, die das ganze Geflecht einer Gemeinschaft stützten. Ein Bruch dieses Versprechens galt nicht nur als persönlicher Fehltritt, sondern als Vergehen gegen die Ordnung, und hier war es Vár, die als Göttin des Schwurs die moralische Wucht dieses Bruchs verkörperte.
So zeigt sich, dass Vár trotz der spärlichen Quellen als eine Göttin verstanden werden muss, deren Kult weniger in prunkvollen Opferhandlungen bestand, sondern in den alltäglichen, aber folgenschweren Akten der Bindung und des Wortes. Sie war die unsichtbare Richterin über die Wahrheit des Menschen – und gerade in dieser stillen, aber allgegenwärtigen Präsenz liegt die eigentliche Tiefe ihrer Verehrung.
Die Symbolik von Vár ist eng mit den zentralen Werten der nordischen Gesellschaft verwoben. Sie verkörpert die heilige Macht des gesprochenen Wortes, das in der Welt der Wikinger fast den Rang einer göttlichen Substanz hatte. Ein Schwur war nicht bloß eine Vereinbarung, sondern ein heiliger Akt, der das Schicksal des Einzelnen und seiner Familie berühren konnte. Wer schwor, tat dies nicht leichtfertig – und Vár war die göttliche Instanz, die über die Einhaltung wachte. Sie verkörpert daher die Wahrhaftigkeit und die Verbindlichkeit, ohne die eine von Ehre und Loyalität getragene Kultur nicht bestehen konnte.
Darüber hinaus hat Vár eine enge Verbindung zu Ehe und Partnerschaft. Wenn zwischen Mann und Frau ein Bund geschlossen wurde, war er nicht nur rechtlich, sondern auch sakral bindend. In diesem Zusammenhang galt Vár als Hüterin dieser Versprechen, als Garantin dafür, dass Treue und Gelöbnis nicht gebrochen wurden. Ihre Symbolik reicht somit weit über den Alltag hinaus: Sie steht für soziale Ordnung, für Vertrauen und für die unsichtbaren Bande, die Menschen aneinanderketten. In Vár zeigt sich das Bewusstsein, dass Worte nicht vergehen, sondern wie unsichtbare Fäden wirken, die die Welt der Menschen zusammenhalten.
Die wichtigste Quelle zu Vár ist Snorris Prosa-Edda. In der Gylfaginning wird sie namentlich genannt und als Göttin beschrieben, die Schwüre und Gelöbnisse überwacht.
Auch in der Skaldendichtung finden sich Spuren: In einigen Kenningar wird ihr Name im Zusammenhang mit Schwüren oder Gelöbnissen verwendet. Diese poetische Sprache zeigt, dass sie zumindest im kulturellen Gedächtnis präsent war.
Archäologisch gibt es keine direkten Belege, doch Rechtsquellen aus der Wikingerzeit – wie die Grágás, das isländische Gesetzbuch – zeigen, wie wichtig die göttliche Sanktionierung von Schwüren war. Schwurbrüche wurden nicht nur rechtlich, sondern auch religiös geahndet. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass Vár in diesen Kontexten angerufen wurde.
Sprachlich finden sich in Ortsnamen und alten Begriffen Spuren, die mit „varar“ zusammenhängen, was auf eine ältere Tradition hinweist.
Um Vár in ihrer ganzen Bedeutung zu verstehen, lohnt sich der Vergleich mit anderen Göttinnen des nordischen Pantheons, die ebenfalls über Beziehungen und Bindungen wachten. Während Lofn als Göttin der Liebe jene Verbindungen förderte, die vielleicht gegen Widerstände entstanden, war Vár diejenige, die über die heilige Festigkeit dieser Bünde wachte. Ihre Rolle unterscheidet sich auch von der der Sjöfn, die für die stillere, zarte Zuneigung zwischen Menschen steht. Wo Sjöfn das Gefühl nährte, machte Vár das Versprechen bindend.
Auch zur Frigg, der Gemahlin Odins, bestand eine enge Verbindung. Frigg verkörperte die mütterliche, fürsorgliche Ordnung innerhalb des Hauses und der Familie, während Vár die formale, verpflichtende Dimension dieser Ordnung repräsentierte. Man könnte sagen, dass Frigg für das emotionale Band und Vár für die rechtliche und göttliche Verbindlichkeit verantwortlich war. Gemeinsam bildeten sie ein Geflecht, das die Ehe nicht nur als privaten Bund, sondern auch als gesellschaftlich und religiös geschützte Institution verankerte.
Dieser Vergleich zeigt, dass Vár keine isolierte Figur war, sondern in einem Netzwerk weiblicher Gottheiten stand, die unterschiedliche Aspekte menschlicher Bindungen schützten und heiligten. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie weniger für Gefühle als für das, was diese Gefühle in dauerhafte Verpflichtungen verwandelte, zuständig war. Vár war diejenige, die das letzte Wort sprach: Ein Versprechen, das in ihrem Namen gegeben wurde, war unumstößlich.
Heute wird Vár in der Ásatrú-Szene und im Neuheidentum als Göttin der Treue und Wahrhaftigkeit verstanden. Sie wird besonders dann angerufen, wenn es um Eide, Versprechen oder Bündnisse geht – sei es in privaten Gelöbnissen oder in rituellen Schwüren.
In einer Zeit, in der Eide nicht mehr sakral, sondern meist nur juristisch verstanden werden, wirkt Vár als Symbol für die Erinnerung daran, dass Worte Gewicht haben. Wer in ihrem Namen schwört, bindet sich nicht nur menschlich, sondern auch spirituell.
In der Popkultur ist Vár kaum präsent, was sie zu einer faszinierenden „verborgenen“ Göttin macht, deren Bedeutung erst bei genauerem Hinsehen sichtbar wird.
Vár ist die Hüterin der Schwüre, eine Göttin, die im Stillen, aber mit großer Bedeutung wirkt. Sie verkörpert das Vertrauen, das eine Gesellschaft zusammenhält, und erinnert daran, dass Worte ebenso mächtig sind wie Schwerter. Ihre Nähe zu Ehe, Gelöbnissen und rechtlicher Bindung macht sie zu einer zentralen, wenn auch wenig bekannten Figur des nordischen Pantheons. In ihr zeigt sich die andere Seite der nordischen Mythologie: nicht das Donnern Thors oder die List Lokis, sondern die stille Kraft des Versprechens, das Menschen und Götter miteinander verbindet.
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