In der nordischen Mythologie beginnt die Geschichte der Menschheit nicht mit Erde oder Ton, sondern mit Holz – einem natürlichen Material, das tief in der Kultur des Nordens verwurzelt ist. Ask und Embla sind die ersten Menschen, erschaffen aus zwei scheinbar bedeutungslosen Baumstämmen, die am Ufer angespült wurden. Diese Geschichte ist nicht nur eine Urszene, sondern ein Spiegelbild des Verständnisses der Wikinger von Leben, Natur und göttlichem Wirken: Der Mensch als Teil des Waldes, als Träger eines göttlichen Funkens, geboren aus der Verbindung von Natur und Schöpfungskraft.
Der Schöpfungsakt, der Ask und Embla ins Leben rief, gehört zu den faszinierendsten und symbolträchtigsten Erzählungen der nordischen Kosmologie. Drei mächtige Götter – Odin, Hœnir und Lóðurr – fanden zwei Holzstämme am Strand, leblos, formbar und bereit für das Wunder der Erschaffung. Die Götter standen dort nicht zufällig: Sie suchten, sie beobachteten, sie entschieden, diese leeren Hüllen mit den Essenzien des Lebens zu erfüllen. Odin schenkte den Atem – den Odem, der die Seele trägt. Hœnir verlieh Intelligenz, Sprache und die Fähigkeit zu denken. Lóðurr schließlich gab das Blut, die Wärme, das äußere Erscheinungsbild. In einem Akt von vollendeter göttlicher Kooperation wurde aus Holz Mensch – nicht als zufälliger Prozess, sondern als gezielte, bewusste Erhebung von Natur zu Kultur. Die Erschaffung von Ask und Embla symbolisiert damit auch das Zusammenspiel der drei wichtigsten Elemente des menschlichen Daseins: Geist, Körper und Seele.
In der Welt der nordischen Mythen ist Odin nicht nur der weise Kriegsgott, sondern vor allem derjenige, der Wissen, Atem und Bewusstsein bringt. Als Ask und Embla noch reglos am Ufer lagen, war es Odin, der ihnen „önd gaf“ – die Seele, den Atem des Lebens. Dieser Odem ist nicht einfach nur ein Lufthauch – er ist das Band zwischen Mensch und Kosmos, das, was uns lebendig, fühlend und träumend macht. Doch die Schöpfung war nicht vollständig, bis auch Hœnir und Lóðurr ihre Gaben einbrachten: Hœnir gab ihnen die Fähigkeit zu denken, zu reflektieren und Entscheidungen zu treffen – eine Form von göttlichem Verstand. Lóðurr, schließlich, vollendete sie durch das äußere Erscheinungsbild – Wärme, Blut und Farbe kamen hinzu. Diese Dreifaltigkeit aus Seele, Geist und Körper verdeutlicht, wie umfassend und göttlich durchdrungen die Menschwerdung in der nordischen Mythologie verstanden wurde.
In Ask und Embla manifestiert sich auch die Dualität des Lebens. Als Mann und Frau verkörpern sie nicht nur den biologischen Ursprung der Menschheit, sondern stehen auch für die zwei Pole, die sich durch die gesamte Mythologie ziehen: Aktivität und Empfänglichkeit, Stärke und Intuition, Ordnung und Wandel. Ask als männliche Figur aus der Esche, dem Weltenbaum, steht für Verbindung, Standhaftigkeit und Wachstum. Embla – je nach Deutung aus Ranke, Ulme oder Erle – trägt das Wesen des Wachsens, Blühens und Verbindens in sich. Gemeinsam formen sie eine Einheit, die nicht auf Dominanz, sondern auf gegenseitiger Ergänzung basiert. In dieser ersten Paarbildung liegt eine klare Vorstellung von Partnerschaft: nicht hierarchisch, sondern balanciert – der Anfang von Sippe, Gemeinschaft und einem geordneten, fruchtbaren Leben in Midgard.
Der Name Ask bedeutet wörtlich „Esche“ und verweist damit unmittelbar auf den Weltenbaum Yggdrasil, der das Zentrum der nordischen Kosmologie bildet. Der Mensch ist also nicht nur aus einem Baum gemacht – er ist aus dem Baum, dem symbolischen Rückgrat des Universums, geformt. Der Name Embla gibt mehr Rätsel auf. Er könnte „Ranke“, „Weinstock“ oder „wässerige Pflanze“ bedeuten – in jedem Fall jedoch steht er für Flexibilität, Wachstum und weibliche Fruchtbarkeit. Beide Namen spiegeln damit die tiefe Verbindung der Wikinger zur Natur wider und machen deutlich: Der Mensch ist nicht losgelöst von seiner Umgebung – er ist ein Teil von ihr.
Nachdem die Götter Ask und Embla erschaffen hatten, gaben sie ihnen nicht nur Leben – sie gaben ihnen auch einen Ort: Midgard, den mittleren Hof. Umgeben von einer schützenden Mauer, die aus den Augenbrauen des ersten Riesen Ymir bestand, wurde Midgard zum sicheren Ort für das neue Menschengeschlecht. Die Wahl dieses Platzes ist kein Zufall – Midgard liegt zwischen den göttlichen Reichen von Asgard und den düsteren Tiefen von Hel. Es ist der Ort des Gleichgewichts, der Ort der Prüfungen und Möglichkeiten. Ask und Embla wurden nicht in einem Paradies geboren, sondern in einer Welt der Herausforderungen, in der der Mensch seine Fähigkeiten entfalten, aber auch Verantwortung übernehmen muss.
Die Parallelen zwischen Ask und Embla und dem biblischen Paar Adam und Eva drängen sich auf – und doch sind die Unterschiede ebenso bemerkenswert. Während Adam aus Ton geformt und Eva aus einer Rippe geschaffen wurde, sind Ask und Embla gleichwertig aus Holz entstanden – beide durch einen bewussten Schöpfungsakt der Götter. Der Akt der Erschaffung ist kein Akt des Gehorsams oder der Prüfung, sondern einer der Fürsorge und Vervollkommnung. Es gibt keinen Sündenfall, keine Vertreibung – Ask und Embla sind nicht Gefallene, sondern Erhobene. Sie werden nicht aus einem Paradies vertrieben, sondern in eine Welt gesetzt, die sie gestalten und bewahren sollen. Während Adam und Eva oft als Ursprung der Schuld gelesen werden, stehen Ask und Embla für Herkunft und Verbundenheit, für ein Werden im Einklang mit der Welt.
Für die Wikinger waren Ask und Embla keine mythologischen Randfiguren, sondern Teil der kollektiven Herkunft. Ihre Geschichte wurde überliefert, in Runen angedeutet und durch Geschichten weitergegeben. Auch wenn es keine spezifischen Kultstätten für das erste Menschenpaar gab, so war ihre Erzählung dennoch tief verwurzelt im rituellen Denken – etwa bei Geburten, Namensgebungen oder Übergangsritualen. Die Tatsache, dass Menschen als Schöpfung der Götter aus der Natur hervorgingen, verlieh dem Alltag eine tiefe spirituelle Dimension. Der Mensch war nicht zufällig da – er war gewollt, verbunden mit der Welt und den Göttern.
Auch in der heutigen Zeit üben Ask und Embla eine ungebrochene Faszination aus. In modernen Erzählungen, Fantasy-Welten, spirituellen Bewegungen und Runenkreisen tauchen sie wieder auf – als Archetypen, als Verbindung zwischen Mensch und Natur, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ihre Geschichte erinnert uns daran, dass der Mensch aus Natur, aber auch aus Geschichte besteht. Dass unsere Ursprünge nicht nur biologisch, sondern auch symbolisch und kulturell verankert sind. Ask und Embla mahnen zur Achtsamkeit: gegenüber der Welt, gegenüber dem Anderen – und gegenüber uns selbst.
Ask und Embla sind in der nordischen Mythologie die ersten Menschen – erschaffen aus Holz, beseelt durch die Götter und eingesetzt in die Mitte der Welt: Midgard. Ihre Geschichte ist nicht nur Ursprungserzählung, sondern eine Botschaft über das Wesen des Menschen: geboren aus der Natur, getragen vom Geist, geformt mit Seele. Im Gegensatz zu anderen Schöpfungsgeschichten zeigen Ask und Embla eine harmonische Entstehung – ohne Schuld, aber mit Verantwortung. Ihr Vermächtnis lebt weiter, nicht nur in den alten Liedern, sondern auch in dem Bewusstsein, dass jeder Mensch ein Teil des großen Gewebes der Welt ist – tief verwurzelt, und doch frei, zu wachsen.
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