Unter den Göttergestalten, die uns aus der Frühzeit der germanischen Religion überliefert sind, ragt Nerthus hervor – eine Göttin, die in der Antike als Mutter Erde verehrt wurde. Sie steht am Anfang der überlieferten Vorstellungen von Fruchtbarkeit, Natur und sakraler Ordnung, lange bevor die uns vertrauten nordischen Asen und Vanen im Zentrum der Mythen standen. Nerthus ist ein Bild der Erde selbst: fruchtbar, ehrfurchtgebietend und geheimnisvoll. Ihre Kultverehrung, die uns vor allem durch den römischen Historiker Tacitus im 1. Jahrhundert n. Chr. überliefert ist, zeigt eindrucksvoll, wie die germanischen Stämme die Kräfte der Natur in rituellen Handlungen ehrten und in göttlicher Form verdichteten.
Der Name Nerthus ist etymologisch eng verwandt mit dem Gott Njörðr, dem späteren Wanen-Gott der See und des Wohlstands. Manche Forscher gehen davon aus, dass Nerthus die weibliche Entsprechung Njörðrs ist oder dass beide eine gemeinsame Wurzel in einer älteren Gottheit haben, die später geschlechtlich differenziert wurde. In jedem Fall zeigt die sprachliche Verwandtschaft, dass Nerthus tief im Kult der Vanen verwurzelt war, also jener Gottheiten, die mit Fruchtbarkeit, Reichtum und der Erde verbunden wurden. Der Name wird häufig als „die Umhüllende“ oder „die Umschließende“ gedeutet – ein Hinweis auf ihre Funktion als umfassende Muttergöttin, die alles Leben trägt und gebiert.
Unsere wichtigste Quelle über Nerthus ist die Germania des Tacitus (ca. 98 n. Chr.), in der er sie als zentrale Göttin mehrerer germanischer Stämme beschreibt. Tacitus berichtet, dass die Göttin auf einer heiligen Insel in einem von Wasser umgebenen Hain verehrt wurde. Dort stand ein mit Tüchern verhüllter Wagen, der nur von einem Priester berührt werden durfte. Wenn die Göttin den Wunsch verspürte, unter die Menschen zu ziehen, spannte man Rinder vor den Wagen und ließ sie durch das Land fahren.
Während dieser Zeit der Prozession herrschte ein heiliger Friede: Waffen wurden niedergelegt, Streitigkeiten beigelegt, und die Menschen widmeten sich Festen und Feiern, die der Göttin geweiht waren. Tacitus schildert, dass diese Fahrten ein Akt göttlicher Gegenwart waren – die Göttin selbst bewegte sich durch das Land, und ihre Nähe brachte Fruchtbarkeit und Segen. Am Ende der Prozession wurde der Wagen mitsamt den Tüchern in einem See gereinigt. Alle, die an dieser Handlung teilnahmen, wurden daraufhin ertränkt, da niemand die Göttin in ihrer reinsten Form unverhüllt sehen durfte.
Diese grausame Konsequenz zeigt, wie heilig und unantastbar Nerthus war. Sie war die Verkörperung der Natur selbst, und wer den Schleier der Mysterien lüftete, musste mit dem Tod bezahlen.
Nerthus verkörpert die Mutter Erde in ihrer doppelten Gestalt: als lebensspendende, fruchtbare Kraft und zugleich als ehrfurchtgebietende, gefährliche Macht. Ihr Wagen, verhüllt und nur von wenigen auserwählten Priestern berührt, symbolisiert die Unnahbarkeit des Göttlichen und die Grenzen zwischen Mensch und Gottheit. Dass sie durch das Land fährt, zeigt ihre enge Verbindung zur Vegetation und Fruchtbarkeit: Ihre Gegenwart ist gleichbedeutend mit reichem Wachstum, Frieden und Erneuerung.
Die Opferhandlungen am Ende des Rituals machen deutlich, dass die Verbindung mit der Göttin heilig und tödlich zugleich war. Sie zeigt sich nicht als „sanfte Mutter“, sondern als urgewaltige, ehrfurchtgebietende Kraft der Erde. In ihr spiegelt sich das uralte Wissen, dass die Erde nicht nur Leben spendet, sondern auch Leben nimmt, dass Fruchtbarkeit und Tod untrennbar miteinander verbunden sind.
Die Nerthus-Verehrung, wie Tacitus sie beschreibt, ist einer der ältesten belegten Fruchtbarkeitskulte im germanischen Raum. Die rituellen Fahrten der Göttin wurden offenbar in regelmäßigen Abständen durchgeführt, wahrscheinlich im Zusammenhang mit jahreszeitlichen Übergängen wie Frühling oder Erntezeit. Dass in dieser Zeit Waffenruhe herrschte, weist darauf hin, dass die Göttin nicht nur über die Fruchtbarkeit, sondern auch über den sozialen Frieden wachte.
Besonders eindrucksvoll ist die Reinigungszeremonie am Ende der Prozession: Der Wagen wurde in einem See gewaschen, und diejenigen, die dies vollzogen, wurden geopfert. Dies lässt darauf schließen, dass Wasser als heilige Substanz galt, in dem die göttliche Kraft erneuert wurde. Seen und Moore hatten im germanischen Glauben ohnehin eine besondere sakrale Bedeutung, wie zahlreiche Moorfunde (Waffen, Opfergaben, Menschenkörper) belegen. Nerthus war also eng mit dem Kult des Wassers und der Erde verbunden – eine Göttin, die sich nicht im Himmel, sondern im unmittelbaren Lebensraum der Menschen offenbarte.
Die wichtigste Quelle zu Nerthus ist zweifellos die Germania des Tacitus. Sie ist die einzige schriftliche Überlieferung, die den Kult direkt beschreibt. Doch ihre Darstellung wird durch zahlreiche archäologische Funde gestützt. In Norddeutschland, Dänemark und Südskandinavien sind viele Opfergaben in Mooren und Seen gefunden worden – darunter Waffen, Schmuck, Tierknochen und auch menschliche Körper. Diese rituellen Niederlegungen stimmen in ihrer Bedeutung mit den Beschreibungen Tacitus’ überein, auch wenn nicht jeder Fund direkt mit Nerthus in Verbindung gebracht werden kann.
Darüber hinaus lässt sich eine sprachliche Verbindung zu späteren nordischen Göttergestalten ziehen. Der Name Nerthus steht in enger Beziehung zu Njörðr, dem Wanen-Gott, der im Mittelalter in Island verehrt wurde. Viele Forscher nehmen an, dass Nerthus und Njörðr ursprünglich eine androgyn gedachte Gottheit waren, die erst später in eine weibliche und eine männliche Gestalt aufgespalten wurde. Damit rückt Nerthus in die Nähe der Wanen, also jener Götterfamilie, die besonders mit Fruchtbarkeit, Meer und Wohlstand assoziiert war.
Die Verbindung von Nerthus mit einem heiligen Wagen erinnert zudem an spätere Berichte über nordische Götterkulte, in denen Wagenprozessionen eine Rolle spielten, etwa bei Freyr. Auch dies deutet darauf hin, dass Tacitus’ Bericht Teil einer langen Kontinuität war und Nerthus eine wichtige Rolle im religiösen Leben der Germanen spielte.
Heute gilt Nerthus als eine der ältesten bekannten Erdgöttinnen des Nordens und wird besonders im Neuheidentum und Ásatrú verehrt. Dort wird sie als Verkörperung der Erde angerufen, als Symbol für Natur, Kreislauf und Fruchtbarkeit. Ihre düstere und zugleich lebensspendende Seite macht sie zu einer besonders faszinierenden Gottheit, die sowohl Ehrfurcht als auch Geborgenheit verkörpert.
Auch in der Forschung hat Nerthus eine zentrale Stellung, da ihr Kult einer der frühesten schriftlich belegten germanischen Fruchtbarkeitskulte ist. Sie steht damit am Anfang einer Tradition, die sich über die Vanengötter bis hin zu Freyr und Freyja erstreckt.
Nerthus ist ein Bild der Erde selbst – schöpferisch, fruchtbar, ehrfurchtgebietend und zugleich gefährlich. In ihrer Gestalt verdichten sich uralte Vorstellungen von der Macht der Natur, von Fruchtbarkeit und Opfer, von Frieden und Tod. Ihre Verehrung, die uns durch Tacitus überliefert ist, gehört zu den eindrucksvollsten Zeugnissen germanischer Religiosität. Sie zeigt, wie eng die Menschen mit den Zyklen der Natur verbunden waren und wie tief die Erde selbst als Göttin verehrt wurde. Nerthus ist damit nicht nur eine mythologische Figur, sondern ein Fenster in die religiöse Welt der frühen Germanen – eine Göttin, deren Kult den Menschen verdeutlichte, dass das Leben selbst Geschenk und Gefahr zugleich ist.
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