Der Blog zur nordischen Mythologie und den Wikingern

Was ist eigentlich der Ginnungagap?

Ginnungagap ist einer jener mythischen Begriffe, die viel mehr verkörpern als nur eine Leere oder ein Ort – er ist das Symbol des Werdens, das kosmische Nichts voller Möglichkeit, der Zustand, in dem noch kein Licht und kein Schatten voneinander getrennt waren. In der nordischen Mythologie steht Ginnungagap an der Grenze zwischen Vorstellung und Unvorstellbarkeit. Es ist das heilige, gähnende Nichts, das alles enthält, bevor irgendetwas geboren wird.

Die alten Skalden schildern diesen Zustand mit einer Ehrfurcht, die den Beginn ihrer Welt klar erkennen lässt: Bevor die Götter, die Riesen, die Menschen und die neun Welten existierten, gab es nur ein Schweigen, das vibrierte, ein Dunkel, das nicht tot, sondern geladen mit schöpferischer Kraft war. Aus diesem Schweigen trat das Sein hervor. Aus diesem Dunkel brachen Licht und Schatten hervor. Und aus dieser unermesslichen Weite entstand das Universum der Nordleute.

Was ist eigentlich Ginnungagap?

Der Name Ginnungagap – Sprachliche Tiefe und Bedeutung

Der Begriff selbst ist mehr als nur ein Wort. Er vereint zwei mächtige sprachliche Elemente:

  • ginn- – ein altnordisches Präfix, das magisch, heilig, gewaltig und allumfassend bedeuten kann

  • gap – „Kluft“, „Riss“, „Gähnen“, „Abgrund“

Gemeinsam entsteht der Ausdruck für eine heilige, magische Ur-Leere, die nicht Abwesenheit bedeutet, sondern alles Mögliche in sich trägt, bevor es Form annimmt. Ginnungagap ist nicht leer – es ist die ungestaltete Fülle, das ursprüngliche Potenzial, das in sich den Keim des gesamten Kosmos trägt.

Ginnungagap zwischen Feuer und Eis – Die Schöpfungsspannung

Die nordische Schöpfung beginnt nicht mit einem Wort oder einem Schöpfergott, sondern mit einem Zusammenspiel von Kräften, deren Wurzeln tiefer liegen als die Götter selbst. Am einen Ende des Nichts lag Niflheim, die Welt des Eises, der Nebel und der tödlichen Kälte. Am anderen Ende brannte Muspelheim, das glühende Reich urzeitlicher Flammen, das älter ist als jeder Gott und von dem Feuer-Riesen Surtr bewacht wird.

Zwischen diesen beiden Urreichen erstreckte sich Ginnungagap, nicht als Leere, sondern als vibrierender Raum, in dem Feuer und Frost sich annäherten, bis sie sich schließlich berührten. Als die Hitze Muspelheims die Eismassen Niflheims zum Schmelzen brachte, tropfte der erste Hauch von Leben in die Tiefe des Abgrunds – und schuf damit das erste Wesen der nordischen Mythologie.

Auðhumla und Ymir – Leben aus dem Abgrund

Aus dem geschmolzenen Eis, das im Ginnungagap herabtropfte und von der Hitze Muspelheims durchdrungen wurde, ging der Urriese Ymir hervor. Er war kein Gott, sondern ein gewaltiges, archaisches Wesen – ungestaltet, instinktiv und ursprünglicher als jedes spätere Geschlecht. Aus seinem Schweiß entstanden weitere Riesen, und damit begann der erste Zyklus des Lebens.

Doch das Leben blieb nicht auf Ymir beschränkt. Aus derselben kosmischen Tropfenwelt entstand auch Auðhumla, die Ur-Kuh, ein symbolisches Wesen von tiefster Bedeutung. Sie ernährte Ymir mit ihrer unerschöpflichen Milch und schuf damit das Gleichgewicht zwischen der ersten Nahrung und dem ersten Leben. Gleichzeitig leckte sie das salzige Eis an und formte dadurch Búri, den Ahnherrn der Götter.

Der Schöpfungsmythos macht deutlich, dass Ginnungagap der Mutterraum aller Wesen ist – Riesen, Tiere, Götter. Alles, was existiert, stammt aus diesem Spannungsfeld aus Feuer und Frost, getragen von einer Leere, die nie wirklich leer war.

Ginnungagap als metaphysisches Konzept

In der nordischen Vorstellung ist Ginnungagap kein geographischer Raum, sondern ein Zustand. Es ist der Moment, bevor Form entsteht, der Zwischenraum, der jedes Werden begleitet. Die alten Nordleute verstanden, dass Schöpfung nicht aus Ordnung, sondern aus dem Zusammenprall von Gegensätzen entsteht – und dass zwischen diesen Gegensätzen ein Raum liegen muss, in dem die Welt atmen kann. Dieser Raum ist Ginnungagap.

Es ist kein Chaos im negativen Sinn, kein Wirrwarr, kein zerstörerischer Strudel. Es ist vielmehr eine ruhende, kosmische Tiefe, in der die Möglichkeit aller Dinge zugleich existiert. Seine metaphysische Bedeutung ist eng mit der Vorstellung verbunden, dass Balance, Spannung und Wandel Teil eines ewigen Kreislaufs sind.

Die bleibende Rolle des Abgrunds im Kosmos

Obwohl die Götter später Ymir erschlugen und aus seinem Körper die Welt erschufen – seine Knochen als Berge, sein Blut als Meere, sein Schädel als Himmel –, verschwand Ginnungagap nicht. Der Abgrund bleibt als Grundstruktur des Kosmos stets präsent.

Die Welt, die aus Ymir entstand, schwebt gewissermaßen in einem Raum, der immer noch nachhallt mit den Kräften des ursprünglichen Zwischenzustandes. In den Vorstellungen um das Weltende, Ragnarök, scheint diese Ur-Leere wiederzukehren: Wenn die Ordnung bricht, wenn die Sonne verschlungen wird und die Sterne vom Himmel fallen, wenn die Welt untergeht, ist es, als kehre der Kosmos an den Ort zurück, an dem alles begann – zurück in den magischen Urgrund, aus dem er einst hervorbrach.

Symbolik des Ginnungagap

Ginnungagap ist ein mächtiges Symbol der nordischen Vorstellungswelt. Es repräsentiert nicht Zerstörung oder Leere, sondern Schöpfungskraft, Offenheit und Potenzial. In seiner Tiefe liegt die Erkenntnis, dass jedes Werden aus einem Moment des Nicht-Seins hervortritt. Die alten Mythen lehren, dass wahre Schöpfung nicht aus Sicherheit, sondern aus Übergängen entsteht – und dass jede Ordnung einen Ursprung im Undefinierbaren hat.

Im symbolischen Sinn steht Ginnungagap für jene Augenblicke im Leben, in denen man im Nichts steht und doch spürt, dass etwas Neues bevorsteht. Es ist der Raum zwischen zwei Atemzügen, das Schweigen vor einer Entscheidung, der Moment, in dem man erkennt, dass aus einem einzigen Funken ein Universum wachsen kann. Ginnungagap ist die schöpferische Leere, die jeder Neubeginn braucht.

Historische Quellen und Belege

Ginnungagap wird vor allem in zwei großen Werken überliefert: in der Völuspá, einem der zentralen Gedichte der Lieder-Edda, und in der Gylfaginning der Prosa-Edda Snorri Sturlusons. Die Völva beschreibt den Urzustand mit poetisch-düsteren Bildern, während Snorri die mythologischen Ereignisse in erzählerische Form gießt. Archäologische Belege existieren naturgemäß nicht für ein metaphysisches Konzept wie den Urabgrund. Doch das Bild vom kosmischen Zwischenraum findet sich in vielen germanischen Motivwelten wieder: in der Betonung von Schwellenräumen, in der symbolischen Bedeutung der Leere, im Verhältnis zwischen Chaos und Ordnung, wie es sich in Kunst, Dichtung und Ritualen zeigt.

Zusammenfassung zur der Frage: Was ist Ginnungagap?

Ginnungagap ist der Anfang vor dem Anfang, der Urraum, aus dem alles erwuchs. Es verkörpert die Wahrheit, dass selbst die größten Strukturen aus einem Zustand entstehen, der frei von Form war. In seiner Tiefe liegt nicht Bedrohung, sondern ein Versprechen: dass im Dunkel das Licht geboren wird, dass aus der Leere die Welt entsteht und dass aus dem Schweigen der erste Klang hervorkommt. Die Lehre des Ginnungagap ist zeitlos: Jede Schöpfung beginnt mit einer Leere, die gefüllt werden will. Jeder Wandel startet mit einem Moment, in dem noch nichts entschieden ist. Und manchmal muss die Welt erst innehalten, bevor sie sich neu formt.


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